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Horst Haider Munske
Von der Amtshilfe zum Protest
Erinnerungen an die Rechtschreibreform

Amtshilfe

Sie war kein Drittmittelprojekt und hatte keine Sponsoren, sie dauerte länger als ein Sonderforschungsbereich der Deutschen Forschungsgemeinschaft, kostete die Auftraggeber aber weniger als eine kleine Sachbeihilfe. Dafür hat sie die Arbeitskraft aller Beteiligten außerordentlich in Anspruch genommen: die Vorbereitung der Rechtschreibreform von 1977 bis 1997. Die Beteiligten waren von wissenschaftlicher Seite die Mitglieder der Rechtschreibkommissionen in der damaligen BRD, der DDR, Österreich und der Schweiz und von politischer Seite Ministerialbeamte der Kultus- bzw. Schulministerien, die sich in größeren Abständen über die Arbeit ihrer Kommissionen berichten ließen, in eigenen politischen Konferenzen den Fahrplan der Reform abstimmten und am Ende – auf der Wiener Abschlußkonferenz im November 1994 – das letzte Wort hatten. „Amtshilfe“ nenne ich die Arbeit der Kommissionen, weil sie unentgeltlich erfolgte, auch ohne jegliche Bereitstellung zusätzlicher Personal- und Sachmittel für die Ausarbeitung der Reformvorschläge. Die beteiligten Professoren der Germanistik bzw. der Fachdidaktik nahmen das Personal und die Etats ihrer Lehrstühle in Anspruch, im übrigen betrachteten sie ihre eigene Arbeit als angewandte Forschung.

Ich will meinen Anteil hieran von der hoffnungsvollen Mitwirkung bis zum Protest gegen die Einführung der neuen Rechtschreibung skizzieren und damit auch einen Einblick in die Arbeitsweise der Rechtschreibkommissionen geben. 1987 wurde ich durch das Kuratorium des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim zum Mitglied der „Kommission für Rechtschreibfragen“ dieses Instituts gewählt. Der Vorschlag war von der Kommission selbst ausgegangen, nachdem ich auf einer Expertentagung ein Modell für Möglichkeiten und Grenzen einer Reform der Fremdwortschreibung vorgestellt hatte. Das eigentliche Eintrittsbillett war jedoch mein damaliger Reformeifer. Die Kommission beschäftigte sich bereits seit 10 Jahren mit Vorarbeiten zur Rechtschreibreform, hatte aber erst in diesem Jahr einen offiziellen Auftrag seitens der KMK und des Innenministeriums erhalten, einen Vorschlag zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung auszuarbeiten.

Für den Kontakt mit der Mannheimer Kommission war von politischer Seite eine Arbeitsgruppe Rechtschreibreform gebildet worden, die sich aus Ministerialbeamten der Kultusministerien der Länder zusammensetzte. Das Interesse von dieser Seite war von Anfang an auf eine Vereinfachung der Rechtschreibung gerichtet, um den Rechtschreibunterricht zu erleichtern. Während dies Ziel im Prinzip auch die Möglichkeit radikaler Änderungen einschloß, waren die betreffenden Beamten tatsächlich – eingedenk früherer gescheiterter Rechtschreibreformen – sehr zögerlich gegenüber solchen Vorschlägen. So lehnten sie von vornherein eine Änderung der charakteristischen deutschen Substantivgroßschreibung ab, waren auch entschieden gegen durchgreifende Reformen der Fremdwortschreibung (wie z. B. Filosof) und natürlich gegen Änderungen der Vokallängebezeichnung, die bereits hundert Jahre zuvor eine Rechtschreibreform hatten scheitern lassen. Daß sie später dennoch einer Neuregelung zustimmten, die sich bald als sehr mangelhaft erwies, hat wohl zwei Gründe: Die Beamtengruppe stand nach mehrjährigen Beratungen der wissenschaftlichen Kommissionen unter Druck, endlich ein Ergebnis vorzulegen, das politisch „umsetzbar“ war – so formulierte eine Ministerialrätin das Ergebnis der Wiener Abschlußkonferenz mit den Worten: „Hauptsache, wir können einen Erfolg melden!“ –, zum anderen waren die tatsächlichen Auswirkungen dieser Neudarstellung und Reform der Rechtschreibung kaum in vollem Umfang absehbar. Zwar hatte die Mannheimer Kommission der Wiener Beschlußvorlage zur Veranschaulichung der Ergebnisse ein exemplarisches Wörterverzeichnis beigefügt, doch ahnte damals niemand, in welchem Umfang die neuen Regeln im gebräuchlichen Gesamtwortschatz zu Änderungen führen würden und wie zweifelhaft viele davon waren. Und schließlich wurde auch nicht vorausgesehen, daß es unterschiedliche Auslegungen geben könne. Das alles förderten erst die neuen Rechtschreibwörterbücher, die ab August 1996 erschienen, ans Tageslicht.

Doch zurück zu den Anfängen. Die Mannheimer Kommission bestand ausschließlich aus reformbewußten Sprachwissenschaftlern und Didaktikern, lediglich der Leiter der Dudenredaktion war meistens skeptisch und gestattete auch nie einen Zugang zu den umfangreichen Karteien und Dateien seiner Redaktion. So fehlte der Arbeit von Anfang an der nötige empirische Bezug. Die Ausarbeitung von Reformvorschlägen vollzog sich folgendermaßen: Die verschiedenen Bereiche der Rechtschreibung wurden an sogenannte Hauptbearbeiter verteilt, welche konkrete Formulierungsvorschläge für die Darstellung und gleichzeitig die Reform der Rechtschreibung ausarbeiteten. In etwa halbjährigen Abständen kam die Kommission zur Beratung dieser Vorlagen zusammen. Mir fiel zunächst die Fremdwortschreibung zu, für die ich auf der Grundlage eines umfangreichen Korpus eine Fremdwortstatistik erstellte. Diese Statistik zielte darauf ab, Anzahl und Häufigkeit von sogenannten Fremdgraphemen (wie z.B. ph, th, ou etc.) im gebräuchlichen Fremdwortschatz zu bestimmen und zu überprüfen, inwieweit bereits eine Integration, d. h. ein Ersatz durch indigene Grapheme (z. B. f für ph in Telefon) üblich geworden war. Die Ergebnisse dieser Statistik führten zu einem relativ restriktiven Vorschlag. Gleichzeitig war jedoch sichtbar geworden, wie häufig bestimmte Fremdgrapheme im deutschen Wortschatz vorkommen. Das veranlaßte die Kommission, auch diese Grapheme in die Gesamtdarstellung der Laut-Buchstaben-Beziehungen aufzunehmen – durchaus ein Novum in der Geschichte der Rechtschreibregelung. Wie überhaupt dies ganze Reformunternehmen unter zwei Aspekten gesehen werden muß: Einerseits ging es um eine umfassende Neudarstellung der geltenden Rechtschreibung, da die Regeln des Duden auf der Rechtschreibvereinbarung vom Jahre 1901 beruhten und nur geringfügig modifiziert worden waren. Die neueren Forschungen zur Rechtschreibung seit den 60er Jahren hatten bisher keinen Eingang in die Duden-Regeln gefunden. Die Rechtschreibung war überwiegend nur fallweise beschrieben, nämlich durch die betreffenden Wörterbuchartikel; es fehlte eine Gesamtdarstellung, nach der die Einzelregeln ihre Begründung fanden. Ein weiterer Kritikpunkt war, daß zwischen dem Regelteil und dem Wörterbuchteil des Rechtschreibduden zu wenig Verweisbeziehungen bestanden.

Die Neudarstellung der deutschen Rechtschreibung sollte die Grundlage eines verbesserten Rechtschreibunterrichts werden. Diesen Aufgabenteil habe ich stets für den wichtigeren gehalten. Soweit die Rechtschreibreform heute Zustimmung findet, gründet sich diese zumeist auf eine bessere Darstellung geltender Regeln. Der andere Aspekt war die Reform unter der Devise einer Vereinfachung. Diese Vermengung zweier Zielsetzungen führte dazu, daß die Grundsätze, die der geltenden Rechtschreibung zugrundelagen, wenig diskutiert wurden. Gegenstand der Beratungen waren immer zugleich bestimmte Reformvorstellungen und entsprechende Formulierungsvorschläge für das künftige Regelwerk. Diese Praxis habe ich vor allem bedauert, als ich später für die Fragen der Groß- und Kleinschreibung zuständig wurde. Worin die Regelhaftigkeit der Großschreibung tatsächlich bestand, war nie Gegenstand ausführlicher Diskussion. Hier wurde natürlich auch sichtbar, daß dieses Thema bisher kaum wissenschaftlich behandelt worden war. Alles Interesse hatte sich auf die Begründung und Einführung der Kleinschreibung gerichtet. Für sie traten (außer mir) sämtliche Mitglieder aller Rechtschreibkommissionen ein. Vergeblich. Denn unsere politischen Auftraggeber scheuten vor solchen Eingriffen zurück. Schützenhilfe erhielten sie dabei von den Ergebnissen einer Anhörung im Mai 1993, zu der über 30 Organisationen vom Börsenverein des deutschen Buchhandels bis zu den Akademien um Stellungnahmen gebeten worden waren. Grundlage dieses ersten Auftritts der Mannheimer Kommission war der weitgehend vollständige Vorschlag zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung vom Jahre 1992, welcher gemeinsam von den Rechtschreibkommissionen der vier Länder vorgelegt wurde. In mehreren Arbeitstreffen hatten sie ihre Auffassungen untereinander abgestimmt, was nur deshalb so gut funktionierte, weil die Mannheimer Kommission eine gewisse Führungsrolle innehatte. Dabei waren die wichtigsten wissenschaftlichen Vorarbeiten seit Ende der 70er Jahre von einer Arbeitsgruppe der DDR geleistet worden. Meine Beiträge bezogen sich vor allem auf die Fremdwortschreibung, die Groß- und Kleinschreibung, die s-Schreibung und die Trennung von ck am Zeilenende.

Zweifel

Je stärker ich in die Ausarbeitung der Neuregelung einbezogen wurde und je intensiver ich mich mit der Entstehung und Begründung einzelner Regeln befaßte, desto größer wurden bei mir Bedenken und Zweifel am Sinn dieser Reform. Eines trat mir immer deutlicher vor Augen: daß die Orthographie weit mehr ist als die graphische Abbildung des Lautsystems durch Buchstaben. In der jüngeren Entwicklungsgeschichte der Rechtschreibung hat vielmehr eine Funktion vorrangig Bedeutung erhalten: die syntaktische, morphologische und lexikalische Struktur des Deutschen für Leser schnell erkennbar zu machen. Fast alle Kompliziertheiten der Rechtschreibung finden eine Begründung, zumeist auch eine Rechtfertigung in dieser Hauptfunktion.

Die Diskussion der Reform spitzte sich zu auf die Frage, wem sie dienen soll – dem Schreiber und Schreiblerner oder dem Leser? Für Leser gab es kaum Reformbedarf. Vielmehr mußten sie fürchten, aus lang geübten Gewohnheiten gerissen zu werden. Die Kontinuität der deutschen Rechtschreibung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, der erfolgreiche Widerstand gegen zahllose Reformversuche waren das Ergebnis hartnäckigen Festhaltens an Normen der Schrift, die zugleich als Normen der darin verfaßten Literatur, als Normen der Kultur verstanden wurden. Demgegenüber waren die Bemühungen der Rechtschreibkommission wie auch der KMK-Auftraggeber primär auf Vereinfachung für den Schreiber gerichtet. Der Konflikt zwischen diesen beiden Orientierungen wurde in der Mannheimer Kommission nicht ausgetragen, weil die Position der Leser dort nicht vertreten war. Ich hatte inzwischen mit verschiedenen Publikationen, u. a. unter dem Titel „Läßt sich die deutsche Orthographie überhaupt reformieren?“ (1993) erkennen lassen, daß ich zumindest mit einem Bein im fal-schen Lager stand. Dies machte sich alsbald in der Auseinandersetzung um die Modifikation der geltenden Großschreibung bemerkbar, die auf der Wiener Rechtschreibkonferenz 1994 einen Höhepunkt erreichte. Schon in den Vorbereitungen hatten sich zwei konträre Positionen gebildet: vermehrte Kleinschreibung in Weiterentwicklung der geltenden Regelung (Munske, Nerius) und vermehrte Großschreibung (Gallmann, Sitta u. a.), wobei diese Position vor allem von jenen vertreten wurde, die zuvor für Abschaffung der Großschreibung eingetreten waren. Der Kompromiß, den die Beamten der Kultusministerien in hektischen Sitzungen zustande brachten, folgte einem vertrauten Muster: möglichst wenig ändern, was häufig vorkommt und darum viel Anstoß erregt. Die Kohärenz des Systems ist dabei auf der Strecke geblieben.

Protest

Mit der Wiener Rechtschreibkonferenz vom November 1994 endete die Arbeit der nationalen Rechtschreibkommissionen; die Beamten der Kultusministerien und die Politiker nahmen nun alles weitere in die Hand. Ein Charakteristikum der folgenden Beratungen und Beschlüsse in Deutschland ist ihre Abstinenz von jeder öffentlichen Beteiligung und jeder parlamentarischen Mitwirkung. Die Wiener Vereinbarungen wurden jetzt politisch herausgeputzt, um die Zustimmung der jeweils höheren Amtsebene zu erlangen. Der Fachbeamte berichtete dem Amtschef, der Amtschef dem Minister, der Minister dem Ministerpräsidenten, wobei mit wachsender Entfernung von der Ebene der Fachleute und Sachverständigen nur noch Rechtfertigungsvokabeln weitergereicht wurden. Da in der KMK das Einstimmigkeitsprinzip gilt und praktisch alle Parteien irgendwo in der Regierung eingebunden waren, kam es auch nie zu einer politischen Auseinandersetzung der Parteien um die Rechtschreibreform. Zwar äußerten einige prominente Politiker Zweifel, ließen es aber bei diesem privaten Unbehagen bewenden. Als schließlich in dieser internen Pseudodebatte am 1. Juli 1996 Einigkeit erzielt wurde, die vor anderthalb Jahren getroffenen Wiener Vereinbarungen „umzusetzen“, war der Weg frei, die neue Rechtschreibung in den Schulen einzuführen. Dies geschah in mehreren Bundesländern umgehend und gegen den in der Wiener Absichtserklärung vereinbarten Zeitplan (ab 1. August 1998). Überraschenderweise kamen auch sofort mehrere neue Rechtschreibwörterbücher auf den Markt, die in Jahresfrist ausgearbeitet worden waren, es folgten Schulfibeln und Kinderbücher. Der Zug der Rechtschreibreform kam mit Volldampf in Fahrt. Und er überrollte alle Proteste der Schriftsteller, der Lehrer, der Leser, die sich in unzähligen Leserbriefen äußerten, der Journalisten, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und vieler vieler anderer. Im Jahre 1997 erschienen nun erstmals größere Publikationen und Streitschriften zu diesem Thema von Journalisten (Krieger ) und Germanisten (Ickler, Munske, Zemb ), aber auch zwei Sammelschriften von Augst/ Blüml/Nerius/Sitta und Eroms/Munske , in denen beide Seiten der Debatte durch Beiträge vertreten waren.

Im April 1997 gelang es den deutschen Kultusministern endlich jene „Kommission für die deutsche Rechtschreibung“ am Institut für deutsche Sprache in Mannheim einzurichten, die sie im November 1994 mit Österreich und der Schweiz vereinbart hatten. Sie „wirkt auf die Wahrung einer einheitlichen Rechtschreibung im deutschen Sprachraum hin“, so heißt es in Artikel III der „Gemeinsamen Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Recht-schreibung“, und weiter: „Sie begleitet die Einführung der Neuregelung und beobachtet die künftige Sprachentwicklung. Soweit erforderlich erarbeitet sie Vorschläge zur Anpassung des Regelwerks.“ Zur „Begleitung“ war es nun etwas spät geworden, nachdem die neue Rechtschreibung bereits in den Schulen vieler Bundesländer im Herbst 1996 eingeführt worden war – „freiwillig“, wie es hieß, aber natürlich endgültig. Weder hatte es eine Erprobung gegeben, noch irgendeinen Kontakt mit den Verlagen, die die neuen Rechtschreibwörterbücher ausarbeiteten oder mit den Schulbuchverlagen, die die neuen Schulbücher herstellten. Naiverweise war davon ausgegangen worden, daß sich dies aufgrund des Regelwerks schon regeln werde. Zu vieler Überraschung gab es jedoch sehr unterschiedliche Auslegungen dieser Vorschriften und entsprechend unterschiedliche Angaben in den Rechtschreibwörterbüchern und Schulbüchern. Jetzt erst erkannten Schriftsteller und Lehrer, Journalisten und Professoren, in welchem Maße die neue Rechtschreibung vom bisherigen Usus abweicht. Die Mehrheit der Kritiker trat für ein Moratorium ein. Auch zwei Mitglieder der neuen Kommission, Peter Eisenberg und ich, hielten dies für den einzigen praktikablen Weg zur Lösung des Konflikts. Dazu bestand jedoch seitens der Kultusminister und ihrer Berater keinerlei Bereitschaft. Die Rechtschreibreform war zu einem Prestigeobjekt der Kultuspolitik der Länder geworden, von der niemand trotz erheblicher Zweifel an deren Qualität Abstand zu nehmen wagte.

Die Kommission erhielt den Auftrag, die öffentliche Kritik zu prüfen, jedoch keinerlei Änderungen an dem schon beschlossenen Reformwerk vorzunehmen. Obwohl viele Mitglieder der Kommission mit der politischen Seite fürchtete, zu weitgehende Zugeständnisse an die Kritiker würden das gesamte Reformwerk desavouieren, bestand doch Einvernehmen, daß in einigen Bereichen, insbesondere der Getrennt- und Zusammenschreibung, Änderungen unumgänglich seien. Ich hatte Gelegenheit, eine Arbeitsgruppe zu diesem Thema zu leiten. Unter großem Zeitdruck und mit Unterstützung umfangreicher Materialien einiger Verlage, versuchten wir, eine angemessene Korrektur vorzunehmen. Mitten in diese Arbeit traf das Erscheinen einer von der KMK angeregten Verteidigungsschrift „Rechtschreibreform. Eine Antwort an die Kritiker“ von Gerhard Angst und Burkhard Schaeder, in der all das, was wir gerade dabei waren, über Bord zu werfen, erneut bis ins letzte verteidigt wurde. Dies war ein Signal, daß keine Aussicht bestand, die nötigen Korrekturen an der Neuregelung der deutschen Rechtschreibung vorzunehmen. Für mich der Anlaß, aus der Kommission auszutreten. Ein durchaus schmerzlicher Schritt, hatte ich doch 10 Jahre zuvor die Einrichtung eben dieser Kommission initiiert und detailliert in der nun praktizierten Organisationsform vorgeschlagen. Wenige Monate später, im Januar 1998, wurde der KMK der Bericht der Kommission vorgelegt. Aus meiner Sicht ein viel zu halbherziger, mehr der Rechtfertigung als der Korrek-tur dienender Vorschlag, dem man aber immerhin den Versuch zugute halten konnte, die Zustimmung der Kultuspolitik zu einer Korrektur zu erreichen. Dies ist mißlungen. Alle Mühe der Kommission war umsonst. Ihre Ausarbeitungen blieben unbeachtet. Vielmehr erfolgte jetzt der endgültige Beschluß, die neue Rechtschreibung verbindlich in allen Schulen einzuführen. Alle Kritik, alle Verbesserungsvorschläge, auch alle Einsichten seitens der Reformer selbst zwischen dem Jahresende 1994 und dem Herbst 1998 wurden völlig ignoriert. Auch Peter Eisenberg verließ daraufhin die Kommission.

Ich habe meinen Widerspruch gegen die übereilte Einführung der neuen Rechtschreibung, gegen deren miserable Vorbereitung, gegen sachliche Mängel und gegen die Ignorierung des öffentlichen Widerstandes seitens der Kultusminister zuerst in einem ganzseitigen Beitrag im Tagesspiegel (5. Juli 1997), später in mehreren Interviews (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Spiegel, Focus, Nürnberger Nachrichten), in weiteren Kommentaren (Spiegel, Tagesspiegel, Welt, Kunst & Kultur) sowie in Radio und Fernsehen publik gemacht. Meinen Weg vom Rechtschreibreformer zum Reformkritiker habe ich in der Einleitung und verschiedenen Kapiteln des Sammelbandes Orthographie als Sprachkultur (1997) begründet.
Meine Bilanz zehnjähriger Mitarbeit an der „Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“ ist dennoch nicht ausschließlich negativ. Zur Positivliste zähle ich die wissenschaftlichen Einsich-ten in Gesetzmäßigkeiten im Aufbau eines Schriftsystems und auch die Einsicht in die Gründe des Widerstandes gegen jegliche Änderungen. Die Beschäftigung mit der Rechtschreibung hat stets ihre Impulse von möglichen Reformen erhalten. Das begann schon im 17. Jahrhundert, als Filip von Zesen und Friedrich Gottlieb Klopstock radikale Reformvorschläge ausarbeite-ten und in ihren Schriften anzuwenden begannen. Wesentliche Impulse erhielt die Beschäfti-gung mit diesem Gegenstand durch Hieronymus Freyers schulpädagogische Verbesserungen, im 19. Jahrhundert durch radikale Reformversuche von Jacob Grimm, die eine anhaltende Debatte auslösten, welche erst mit der Rechtschreibeinigung im Jahre 1901 zu einem Ende kam. Keine der vielen Rechtschreibreformbemühungen in diesem Jahrhundert war so intensiv vorbereitet wie die jetzige. Daß sie dennoch in der Sache so schlecht ausgefallen ist, hat vor allem zwei Gründe: die völlig unzureichende empirische Überprüfung ausgedachter neuer Regeln („Kopfgeburten“) am Gesamtwortschatz der deutschen Sprache und das Versagen der Politik in der Vorbereitung und Durchführung dieser Reform. Das erste hätte spätestens vor Einführung in einem Korrekturgang geschehen müssen. Hier habe ich die Stimme verantwor-tungsbewußter Lexikographen vermißt, die bei der Ausarbeitung der neuen Rechtschreibwör-terbücher auf alle Mängel der Neuregelung gestoßen sind. Ein Geburtsfehler dieser Recht-schreibreform lag darin, daß die verantwortlichen Politiker von vornherein ausschließlich reformorientierten Sprachwissenschaftlern das Feld überlassen haben, andere Gruppierungen des Faches ignorierten, vor allem aber alle diejenigen, die die Schriftkultur in unserem Lande repräsentieren, im Prozeß der Vorbereitung überhaupt nicht zu Wort kommen ließen, son-dern sie lediglich mit einer nichtöffentlichen Anhörung abfertigten. Diese Alibiveranstaltung, an der ich als Vertreter der Rechtschreibkommission teilgenommen habe, war überwiegend geprägt von nichtssagenden inkompetenten Stellungnahmen. Lediglich die Vertreter der Aka-demien und der Studiengruppe Geschriebene Sprache leisteten begründeten heftigen Widerstand. Sie hatten jedoch keinerlei Chance, ihre eigenen Vorstellungen in die Weiterarbeit einzubringen. Anhörungen sind ein politisches Mittel, ein unverbindliches Meinungsbild zu gewinnen, ohne daß die Handlungsvollmacht in irgendeiner Weise aus der Hand gegeben wird. Von ähnlicher Art war die Anhörung weniger Kritiker im Zusammenhang mit der Urteilsfindung des Bundesverfassungsgerichts.

Als folgenschwersten Mangel dieses Unternehmens empfinde ich jedoch das Scheitern parla-mentarischer Kontrolle. Zwar gab es innerhalb der Parteien, vor allem in der FDP und der CDU sowie bei einzelnen herausragenden Politikern mehr oder weniger deutliche Kritik. Dies änderte aber nichts daran, daß in das Verfahren der Beratung und Beschlußfassung inner-halb der KMK sämtliche Parteien eingebunden waren und eine kontroverse Debatte zwischen ihnen überhaupt nicht zustande kam. Es bildete sich eine All-Parteien-Koalition, die darauf abzielte, dieses Thema auf dem Verordnungswege abzuhandeln. Dies zeigte sich erneut, als der Kieler Landtag beschloß, die Ablehnung der neuen Rechtschreibung durch einen Volksentscheid bereits nach einem Jahr rückgängig zumachen. Solche Mißachtung der entschiedenen Auffassung einer Bevölkerungsmehrheit ist nicht nur Ausdruck politischen Hochmuts in der Tradition des Obrigkeitsstaates; sie ist nicht nur das Ergebnis einer wuchernden Bürokratieherrschaft, die sich unter dem Deckmantel der Kultusministerkonferenz legislative Rechte anmaßt; hierin zeigt sich vielmehr, daß die politischen Organe unserer Republik nicht in der Lage sind, die langfristigen Aufgaben der Sprachpflege und Sprachkultur angemessen zu behandeln. Mangelnde Sachkompetenz, kurzfristige politische Strategien und wirtschaftliche Zwänge sind eben nicht mit der Verantwortung für Sprache vereinbar. Auch die Orthographie des Deutschen ist bei den Sprachteilhabern selbst, besonders denen, die täglich schreibend und lesend mit ihr umgehen, am besten aufgehoben.

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