15.11.2013


Dankwart Guratzsch

Nichts als Pfusch

Deutsche Rechtschreibung? Ein Trümmerhaufen

Die Rechtschreibreform ist krachend gescheitert. Die Regeln des Schreibens haben ihre Verlässlichkeit verloren. Es wird höchste Zeit, dem Wirrwarr ein Ende zu setzen.

Siebzehn Jahre nach der Rechtschreibreform bietet sich an den Schulen ein niederschmetterndes Bild. Nur noch jeder fünfte Schüler der neunten Schulstufe in Deutschland beherrscht die deutsche Rechtschreibung. Das hat der "Rat für deutsche Rechtschreibung" herausgefunden und seinem Auftraggeber, der Kultusministerkonferenz, im Oktober bescheinigt. Dabei war es das erklärte politische Ziel der Reform gewesen, der Sprachgemeinschaft (und den Schülern im Besonderen) das Erlernen, Lesen und Schreiben der deutschen Schriftsprache zu erleichtern. Immer neue staatliche Eingriffe bis hin zur jüngsten Anweisung: "Schreib, wie du es hörst" haben aus der Rechtschreibung Konrad Dudens einen Trümmerhaufen gemacht. Vor sieben Jahren hat der für die "Weiterentwicklung" der Rechtschreibung eingesetzte "Rat" noch einmal 17 (!) von niemandem verwendete neue Unsinnsschreibungen von Fremdwörtern zurückgenommen. Das war das Letzte, was man von ihm gehört hat.

Jetzt haben die Kultusminister die Quittung: Der einzige über den engeren Kreis hinaus bekannte kritische "Kopf" dieses Gremiums, der Linguist Peter Eisenmann, schmeißt hin. Für den Versuch, die Rechtschreibreform doch noch irgendwie zu retten, ist das ein Desaster. Denn wer soll an seine Stelle treten?

Die Zeit ist reif für eine Generalinventur. Allerdings braucht man dafür den Mut zu einer Revision von Grund auf. Die Schönredner aus dem "Rat", die nichts offenlegen, nichts kritikwürdig finden, nichts Konstruktives zu einer Lösung beizusteuern vermögen, sind dafür kein Ansprechpartner mehr. Es gehört zu den dümmsten Argumenten in der Rechtschreibdebatte, die Orthografie einfachheitshalber gleich pauschal für unwichtig zu erklären. Das mag sie für die wirklich Intellektuellen tatsächlich sein. Für die breite Masse der Schreibenden ist sie es offensichtlich nicht. Da braucht man nur einmal die Internetforen, Blogs und Partnerbörsen durchzuscrollen, um immer wieder auf die Forderung von Briefschreibern zu stoßen: "Aber bitte nur Antworten in korrekter Rechtschreibung."

Orthografie für marginal zu erklären, nur weil die Rechtschreibreform nicht funktioniert, ist nichts als eine Verlegenheitsfloskel. Kommunikative Kompetenz wird in der Gesellschaft unverändert an der Beherrschung von Grundregeln gemessen. Aber die Regeln für das Schreiben, wie sie der geniale Konrad Duden aus dem Schreibgebrauch der deutschen Stämme und Regionen kompiliert hat und wie sie die Buchdrucker des Kaiserreichs rektifiziert haben, sie haben für weite Teile der Bevölkerung ihre Verlässlichkeit verloren. Verlage, Medien, Wörterbücher, selbst einzelne Schriftsteller schreiben nach eigenem Gusto. In der Lehrerschaft hat das Pfuschwerk Resignation, Unlust und Gleichgültigkeit ausgelöst. Das ist die Mitgift, mit der die Schule heute die Schüler ausstattet.

Dabei ist allein der Eindruck irrig, dass die Reform aus einem echten gesellschaftlichen Bedürfnis erwachsen sei und die Fachwissenschaft geschlossen hinter ihr stehe. In Wahrheit war sie das Anliegen einer kleinen Gruppe von Linguisten um den Siegener Germanisten Gerhard Augst, die im "elaborierten Code" der geltenden Rechtschreibung ein Instrument zur "Unterdrückung" breiter Volksschichten sahen und die Sprachgemeinschaft aus solcher Regelknechtschaft "befreien" wollten. Das Gegenteil wurde erreicht: Der Prozentsatz derjenigen, die sich in der Orthografie gewandt zu bewegen vermögen, ist infolge der Reform dramatisch gesunken, die Stigmatisierung derer, die ob ihrer Herkunft aus bildungsfernen Schichten über diese Fertigkeit nicht verfügen, hat zugenommen. Diese Beschädigung der Zugangswege zur Bildung ging einher mit der Beschädigung demokratischer Spielregeln, war doch die vermeintliche "Reform" nur unter Missachtung rechtsgültiger Bürgerentscheide durchzusetzen.

Wie aber konnte es einer Handvoll linguistischer Wissenschaftler gelingen, einer sich nach Kräften sträubenden Schreibgemeinschaft von hundert Millionen Mitteleuropäern widersprüchliche, am Schreibtisch ausgedachte Schreibweisen aufzuzwingen? Das ist nur möglich gewesen, weil es hinter den Kulissen zu einem bis heute nicht aufgearbeiteten Komplott zwischen westdeutschen und DDR-Linguisten kam. So war es allen anderen Argumenten voran die penetrant vorgetragene Drohung der Gruppe um Augst, die DDR werde ihre eigene Reform machen, wenn der Westen nicht vorangehe, die die bundesdeutschen Kultusminister kirre machte. Es war ein Sonderfall konspirativer Erpressung. Die Bereitschaft der "West"-Politiker, die alte Rechtschreibung umzustoßen, wurde von der durch die Wissenschaftler geschürten Sorge diktiert, der zweite deutsche Staat könnte nach der politischen auch die kulturelle Einheit der Deutschen aufkündigen. Dass der Geleitzug wegen der österreichischen, schweizerischen, liechtensteinischen, belgischen, luxemburgischen und Südtiroler Mitfahrer dann nicht mehr zu stoppen war, als über Nacht die Wiedervereinigung kam, gehört zu den historischen Ironien dieser überflüssigen und schädlichen Kulturrevolution.

Was aber vor zwanzig Jahren gegolten hat, kann heute keine Entschuldigung mehr sein. Seit 1996 haben zuerst die Mitglieder der Kommission, dann des Rats ihren Auftrag missachtet, den deutschen "Schrift-Usus" (also den mehrheitlichen Rechtschreibgebrauch) der Deutschen zu ermitteln und die "amtliche" Rechtschreibung daran anzupassen. Diese Arbeit hat das Gremium vom ersten Tag seines Bestehens an großzügig den Wörterbuchverlagen und dem Institut für deutsche Sprache in Mannheim überlassen, die aber jeder zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen und Auslegungen kommen. Die ebenfalls nicht vom "Rat" selbst, sondern durch unabhängige Untersuchungen auf der Basis von Millionen Daten gewonnene Erkenntnis, dass sich die Zahl der Rechtschreibfehler in Schüleraufsätzen und -diktaten nach der Reform verdoppelt hat, ist dem Rechtschreibkonsortium keine Beachtung wert.

Es war die Politik, die die Suppe eingebrockt hat. Es ist endgültig an ihr, die Konsequenzen zu ziehen. Der ratlose "Rat" hat keine Daseinsberechtigung mehr. Die Rechtschreibreform muss endlich durch ein unabhängiges, mit Gegnern und Befürwortern zumindest paritätisch besetztes Gremium auf den Prüfstand gestellt werden. Das Ziel ist klar: eine neue internationale Rechtschreibkonferenz, die dem unerträglichen Wirrwarr ein Ende setzt.

Quelle: Die Welt
Link: http://www.welt.de/print/die_welt/debatte/article121917513/Nichts-als-Pfusch.html

Die Quelldatei dieses Ausdrucks finden Sie unter
http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=707