04.07.2013


Walliser Bote

«Die Rechtschreibreform ist kein Ruhmesblatt»

SOK und Reclam-Verlag

Die Schweizer Orthographische Konferenz (SOK) hielt in den Räumen der NZZ ihre 8. Tagung mit Vorträgen und Podiumsgespräch ab. Die Leitung hatte Urs Breitenstein-von Riedmatten (SOK), alt Verleger des Schwabe-Verlages und Förderer der Literatur.

Dass die neue Rechtschreibung kein Ruhmesblatt sei, diese Einschätzung stammt vom Präsidenten des «Rates für Rechtschreibung» persönlich, von Dr. Hans Zehetmair. Da der von ihm geleitete Rat den Ausweg aus dem Durcheinander nicht fand, hat die SOK (www.sok.ch) eigene «Empfehlungen» herausgegeben, welche zu einer einheitlichen und sprachrichtigen Rechtschreibung anleiten. Der WB berichtete. Der Kreis der Anwender dieser Empfehlungen wächst und wächst; auf der Tagung wurde mitgeteilt, dass auch der Reclam-Verlag zu ihnen gehört. Die Empfehlungen beruhen auf der sorgfältigen Rechtschreibung der NZZ. Es ist also mehr als ein symbolischer Akt, dass die Tagung an der Falkenstrasse stattfand und dass es Dr. Daniel Weber, Redaktionsleiter von NZZ Folio, war, der die Teilnehmer begrüsste. Anwesend waren gut fünfzig Journalisten, Chefredaktoren, Lektoren, Verlagsleiter, Medienkritiker, Lehrkräfte, Schriftsteller, Übersetzer, Sprachwissenschaftler und Sprachfreunde.

Vier Reform-«Todsünden»

Professor Dr. Rudolf Wachter (SOK) zeigte in seinem Fachreferat vier Grundübel dieser Reform auf: die willkürliche «e- und ä-Änderung» (wir nennen die Gämse, die an einem Stängel nagt), die unsinnige Auftrennung von Wörtern (wieder sehen), die ausufernde Verwendung des Grossbuchstabens (heute Früh) und das Weglassen von Kommas. Im sich verselbstständigenden Internet haben diese Grundübel Folgen, welche die Reformer nicht wollten, für die sie aber Verantwortung tragen: «Weihnachtsgeschänke, Aufwändungen, Wut entbrannt», «Einmal ist kein Mal».

Der Duden dreht sich im Kreis

In der reichhaltigen Tagungsmappe lagen ein schönes Reclam-Büchlein und die Qualitätszeitschriften NZZ Folio und Schweizer Monat, alle auf der Linie der SOK-Empfehlungen. Wie der zweite Referent Stefan Stirnemann (SOK) ausführte, gehört zu einem guten Inhalt eine zweckmässige Rechtschreibung. In einem der Mappe beigelegten Artikel zeigt Stirnemann, wie der Duden 1996 das alte Wort fleischfressend trennte (Fleisch fressend) und verbot und bis 2009 über viele Zwischenstufen wieder erlaubte. Was denkt ein Schüler von seinem Lehrer, der ihn diese Kapriolen mitmachen liess? Mangelhaft ist aber nicht nur der grosse Duden, sondern insbesondere auch der «Schweizer Schülerduden», der, wie gezeigt wurde, Schüler und Lehrer bei entscheidenden Fragen in die Irre führt.

Podium und Beschlüsse

Die Leitung des Podiums hatte die bekannte und charmante Kulturjournalistin Monika Schärer, und unter dem Titel «Rechtschreibreform, kein Ruhmesblatt für Politik und Wissenschaft» diskutierten Dr. Christine Ruhrberg (Reclam-Verlag), Dr. Daniel Weber (NZZ Folio), Peter Müller (Schweizerische Depeschenagentur SDA) und Gisela Meyer Stüssi (Vizepräsidentin des Gymnasiallehrervereins). Einig war man sich über die Verunsicherung, die heute herrscht, und in der Frage nach dem Sinn der neuen Rechtschreibung. Meyer Stüssi berichtete, wie sie zu Beginn der Reform versucht habe, die Neuerungen zu lernen, unterdessen aber längst nicht mehr wisse, was «alte» oder «neue» oder «mittelalte» oder «neueste» Rechtschreibung sei. «Kein Ruhmesblatt», aber ein «Meisterstück der subversiven Durchsetzung» nannte Peter Müller die Reform treffend. Die Versammlung erteilte abschliessend der Arbeitsgruppe der SOK den Auftrag, die Zusammenarbeit mit der Konferenz der Chefredaktoren und dem Verband der Schweizer Medien zu vertiefen und ein SOK-Wörterbuch zu erarbeiten. Man darf gespannt sein, wie es weitergeht.



Frau Dr. Christine Ruhrberg, Lektoratsleiterin des Philipp Reclam jun. Verlages, beantwortet Fragen zur Stellung ihres Verlages zur SOK-Bewegung selbst und zu den «SOK-Empfehlungen zu einer einheitlichen und sprachrichtigen deutschen Rechtschreibung».

Frau Dr. Ruhrberg, Ihr Verlag folgt weitgehend den Schreibempfehlungen der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK) und hat sich damit gegen den Duden entschieden. Warum?

«Der Duden empfiehlt noch immer bei seiner Auslegung der neuen amtlichen Regeln eine Menge sinnwidriger und/oder ungrammatischer Schreibungen. Der Reclam Verlag versucht, den neuen Regeln so weit zu folgen, wie man es vertreten kann, und dabei helfen nach Meinung der Lektoren und Redakteure des Verlags die grösstenteils vernünftigen Auslegungen der neuen Regeln durch die SOK. Allerdings befolgt der Reclam Verlag die Empfehlungen der SOK nicht vollständig: Er nimmt Rücksicht einerseits auf die Wünsche der Autoren und andererseits auf die Historizität der Schriftsprache in den Werken der deutschsprachigen Klassiker. Nebenbei: Das Duden-Rechtschreibwörterbuch war für den Reclam Verlag in seiner ganzen Geschichte niemals verbindlich.»

Gibt es Rückmeldungen auf diese Entscheidung?

«Bisher gar nicht, seit der letzten Tagung der SOK ein wenig. Das liegt sicher daran, dass Reclam den SOK-Richtlinien eben nur zum Teil und differenzierend folgt.»

Erscheinen die mit Recht berühmten gelben Büchlein Ihres Verlages künftig mit einem kleinen Schweizerkreuz?

«Da wir gerade darüber grübeln, ob in Schillers Wilhelm Tell die Schreibung ‹äuserst› mit nur einem ‹s› (für ‹äußerst›) aus historischer Treue erhalten bleiben sollte, kann man das für den Tell mal in Erwägung ziehen… Aber leider bleiben dann doch immer noch zu viele ß im Text stehen!»

Wie schätzen Sie persönlich die SOK ein?

«Ich halte die Empfehlungen der SOK für sehr vernünftig und hoffe, dass sie im Rechtschreibrat die Findung eines grenzüberschreitenden Kompromisses fördern können. Allerdings meine ich auch, dass die Zeiten einer komplett und ausnahmslos geregelten Orthografie und einer einzigen regelnden Instanz vorbei sind, dass wir Toleranz gegenüber Varianten und historischen Formen üben und lernen sollten.»



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