07.02.2007


Jan Henrik Holst

Der Zunahmi

In Indonesien gibt es zur Zeit Überschwemmungen. Das erinnert an die Flutwelle, von der die Anrainerstaaten des Indischen Ozeans zu Weihnachten 2004 heimgesucht wurden.
Man sprach damals auch mit einem aus dem Japanischen kommenden Wort von Tsunami; jap. nami = Welle. Aber was passiert bei einem Tsunami? Das Wasser nimmt an Stellen, wo es das nicht soll, immer weiter zu. Es kommt zu einer Zunahme des Wassers. Also müßte man doch Zunahmi schreiben!

Absurd? Aber nach diesem Prinzip wird in der Rechtschreibreform mit nicht wenigen Wörtern tatsächlich umgegangen. Eine Etymologie wird untergemogelt und die Rechtschreibung daran ausgerichtet. Ob auch tatsächlich die Sprachgemeinschaft (oder deren Mehrheit) an den unterstellten Zusammenhang denkt, spielt keine Rolle, ebensowenig, ob die phonetischen Details etwas hinken – wie die Betonungsverhältnisse bei unserem Spottbeispiel Zunahmi.

Sehen wir uns das Schritt für Schritt an. Im Französischen gibt es ein Wort crévisse, das eine Sorte kleinen Meeresgetiers bezeichnet. Die Engländer übernahmen das Wort; da sie es sich aber nicht erklären konnten, gestalteten sie den Wortbestandteil -visse zu -fish um und gelangten so zu dem Wort crayfish. Die Sprachwissenschaft nennt dies eine Volksetymologie. Der Terminus ist eigentlich nicht glücklich, denn "Volk" ist hier gemeint im Sinne von "das dumme Volk", "die Masse".

Ein weiteres Beispiel ist dt. Hängematte, das von einem ähnlichen Wort aus einer Indianersprache stammt und erst dann (über das Niederländische vermittelt) so umgestaltet wurde, daß es den Eindruck macht, zwei deutsche Bestandteile aufzuweisen. Sogenannte Volksetymologien sind gelegentliche Vorkommnisse der Sprachgeschichte, die jedoch gewöhnlich keinen weiteren Schaden anrichten.

In der Rechtschreibreform wurden sie jedoch zum Prinzip erhoben. Das bekannteste Beispiel ist Tolpatsch, ein Wort aus dem Ungarischen, von ung. talp "Sohle" (ung. kurzes a wird mit Lippenrundung ausgesprochen, was für deutsche Ohren an ein o erinnert). Die Reformer behaupteten, es erinnere an das deutsche Wort toll und verordneten die Schreibweise Tollpatsch. Dabei ist toll im Sinne von "verrückt" heutzutage selten und fast nur noch in den Komposita Tollwut und Tollkirsche anzutreffen. Die normale Bedeutung ist heutzutage "prima, super". Und selbst "verrückt" würde kaum passen, denn es geht ja um "ungeschickt", "unbeholfen", was semantisch noch ein weites Stück abseits ist. Es wurde nie ein empirischer Nachweis geführt, daß tatsächlich viele Deutschsprachige bei Tolpatsch an toll denken. Daß der Chefideologe der Rechtschreibreform, Gerhard Augst, für diese Änderung Feuer und Flamme war, reichte aus.

Ähnlich ergeht es dem Wort einbleuen, das nichts mit blau zu tun hat, aber wegen möglicher blauer Flecken zu einbläuen umreformiert wurde. Entsprechendes gilt für belemmert, das nichts mit Lamm zu tun hat, aber zu belämmert geändert wurde. Theodor Ickler, in seinem Buch Falsch ist richtig, S. 37-46, spricht von "Etymogeleien", wobei er das Wort Etymologie scherzhaft selbst einer Volksetymologie unterwirft.
Das Problem ist hier also nicht das Volk, sondern die Gelehrten, genauer: die Pseudogelehrten. Das Eigenartige ist, daß die Rechtschreibreformer in vielen Fällen durchaus die korrekte Herkunft eines Wortes kennen, aber dennoch meinen, es zur Beglückung des für dumm gehaltenen Volkes "vereinfachen" zu müssen. Man könnte es jedoch umgekehrt sehen: Daran, daß das Wort Tolpatsch mit nur einem l geschrieben wird, erkennt man, daß es nichts mit toll zu tun hat. Man wird dann die Bedeutung des Wortes viel besser verinnerlichen und ohne falsche Assoziationen handhaben können – eben ohne Irreführung durch toll. Hier sieht man wieder einmal, daß die Rechtschreibreform nicht nur darein eingreift, wie wir schreiben sollen, sondern auch wie wir denken sollen – und das macht diese Reform so gefährlich. Selbst etwas wie dass anstatt daß ist kein Detail, sondern psychologisch ein ganz anderes Erlebnis.

Die Rechtschreibdeformer betonten mehrmals, daß die Reform noch nicht ihren Endpunkt erreicht habe und in der Zukunft weitere Vereinfachungen möglich seien. Ja, ja, so ist es; der Handlungsbedarf zeigt sich an allen Ecken und Enden: Zunahmi sei ihnen dringend empfohlen.



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