22.06.2006 Stefan Stirnemann Die Vervierfachung der RechtschreibungHin und zurückDen ausführlichen „Hintergrund“-Artikel zum heutigen EDK-Beschluß leitet die Redaktion des St. Galler Tagblatts auf der Titelseite folgendermaßen ein:Im Labyrinth Heute entscheidet die Schweizer Erziehungsdirektorenkonferenz EDK über die korrigierte Fassung der reformierten Rechtschreibung. Die Frage stellt sich, ob sie dabei Deutschland folgt, wo die Ministerpräsidenten im März Ja zu den jüngsten Änderungsempfehlungen des Rats für Rechtschreibung gesagt haben – oder ob die Schweiz eine eigenständige Linie einschlägt. Allerdings: Worüber genau da entschieden wird, ist nicht leicht zu sagen. Der Wahrig erschien erst gerade, der Duden kommt erst im Juli und wird mit unzähligen Variantenempfehlungen zur Klarhiet auch nicht unbedingt beitragen. Die seit 1996 galoppierende Reform der Reform der Reform hat insgesamt beträchtliche Unsicherheit ausgelöst – wir dokumentieren das Hin- und Her der Schreibweisen an Beispielen und geben einem Kritiker des Reformprozesses das Wort. (red.) Die Vervierfachung der Rechtschreibung 1996 sollte sie einfacher werden, zehn Jahre später ist man davon weiter entfernt denn je. Die Reform der Rechtschreibung ist zur Dauerreform geworden. Heute nun entscheidet die Erziehungsdirektorenkonferenz EDK über die letzten Änderungsvorschläge des 2004 formierten Rates für Rechtschreibung. Deutschland hat sie gutgeheissen – ein Reformkritiker nimmt Stellung / von Stefan Stirnemann Eigentlich sollte unsere Rechtschreibung 1996 nur vereinfacht werden, stattdessen hat man sie vervierfacht. Seit Juni 2004 und Februar 2006 gibt es eine zweite und dritte Fassung der Neuregelung, und daneben steht nach wie vor die angeblich alte Rechtschreibung, der sich die neue von Jahr zu Jahr mehr annähert. Über diese Vorgänge könnte man lachen, wenn sie nicht genau das Geld kosteten, das uns im Bildungswesen fehlt. Um zu sparen, hat der St. Galler Erziehungschef, Regierungsrat Stöckling, den Kantonsschulen Heerbrugg und Wattwil verboten, im kommenden Schuljahr das Schwerpunktfach Latein durchzuführen, ein Fach, das nach wie vor der beste Weg zu vielen geisteswissenschaftlichen Studien ist. In allen Fächern – Musik, Mathematik, Sport, Muttersprache – wird das Geld gezählt. Für immer neue Wörterbücher, Lehrmittel und Umschulungskurse dagegen fliesst es. Im August 1996 wurden wir umgeschult und schrieben «es tut mir Leid», im Juni 2004 wurden wir umgeschult und schrieben «es tut mir Leid/leid»; seit diesem Februar schreiben wir wieder «es tut mir leid». So ist seit 1996 alles in wilder Bewegung, und nur die Verantwortlichen sind unbeweglich und behaupten tapfer, dass es nach Plan gehe, dass es keine Reform der Reform gebe und dass nur kleine Anpassungen nötig seien. Moratorium oder nicht? Günther Drosdowski, der als Leiter der Dudenredaktion an der Ausarbeitung der neuen Rechtschreibung beteiligt war, schrieb 1996 verbittert: «Mir erlegten Anweisungen der Kultusministerien und die Verlagsräson auf, dass ich die Reform mittrage, aber es ist nicht meine Reform.» 2006 sagte die brandenburgische Wissenschaftsministerin Wanka, die im letzten Jahr Präsidentin der Kultusministerkonferenz war: «Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.» Soll die Schweiz deutscher Verlags- und Staatsräson folgen oder der Sprache und der Vernunft? Aus unserem Erziehungsdepartement vernahm man letzthin die geistreiche Bemerkung, dass nicht die Kinder Schwierigkeiten mit den neuen Regeln hätten, sondern nur die Erwachsenen. Offensichtlich haben es die Kinder nun einfacher, während die Erwachsenen nicht umlernen wollen. Wie einfach ist eine Rechtschreibung, in der man nach zehn Jahren nicht einmal eine einfache Prüfung abhalten kann? Seit dem letzten Sommer sind einige Teile der Neuregelung notenwirksam, und zwar in der Fassung vom Juni 2004. Diese Fassung hat bis heute noch keine Darstellung in einem Lehrmittel gefunden. Als sich in dieser unübersichtlichen Lage kurz vor der diesjährigen gymnasialen Aufnahmeprüfung eben die Schwierigkeiten zeigten, welche Kinder und Erwachsene haben, verfügte die Prüfungsbehörde, dass nochmals auch «die alten Orthografie- und Interpunktionsregeln toleriert» würden. Der Entscheid ist richtig und verantwortungsbewusst, aber er führt das Moratorium durch, das Regierungsrat Stöckling nach wie vor ablehnt. Aus Gründen der Rechtsgleichheit müssen nun natürlich auch für die Semesterzeugnisse nochmals die alten Regeln toleriert werden. Der Rat für Rechtschreibung Da er mit Zweidrittelmehrheit entscheidet und da die Reformanhänger die Mehrheit haben, konnte er bisher keine überzeugende Lösung vorlegen. Sehr oft mussten sich die sprachbewussten Mitglieder damit begnügen, dass die richtigen Schreibweisen als Varianten zugelassen wurden. Der auf Juli angekündigte neue Duden wird mit 3000 Empfehlungen Schneisen ins Variantendickicht schlagen. Ungünstig war auch der Einfluss der Wörterbuchverlage, welche aus Geschäftsdenken nicht zu viele Änderungen auf einmal wollen. Frau Krome, die im Rat die Wahrig-Redaktion vertritt, schrieb in einer Stellungnahme: «Zum jetzigen Zeitpunkt sollten nur unbedingt notwendige Einzeländerungen vorgenommen werden, also solche, die in der Öffentlichkeit besonders stark diskutiert wurden.» Einige Schweizer Räte sind Mitarbeiter des Duden-Verlags. Peter Gallmann und Horst Sitta setzten sich seinerzeit in einem Brief an die Erziehungsdirektoren dafür ein, dass der Duden in der Schweiz Referenzwerk bleibt. Schweizer Räte bearbeiten auch viele unserer Lehrmittel. Sie bemühen sich nicht sehr, den jeweils neusten Stand zu bieten. Der Vorsitzende des Rats, alt Staatsminister Hans Zehetmair, missbraucht sein Amt, um dem neusten Wahrig ein rühmendes Vorwort zu geben. Auswege «Wohlbekannt» ist nicht dasselbe wie «wohl bekannt». Schon 1996 wies man die Reformer auf Franz Kafka hin. Am Anfang von «In der Strafkolonie» heisst es vom Offizier, der eine Hinrichtungsmaschine betreut: «Er überblickte mit einem bewundernden Blick den ihm doch wohlbekannten Apparat.» Trennt man das Adjektiv, wird der Satz zweideutig. Die Trennung war bis 2004 vorgeschrieben, der Duden empfahl sie noch 2005, im neusten Wahrig gilt «wohlbekannt» als zweitklassige Variante. Wie lange noch müssen wir mit Politikern über die Bedeutung von Wörtern streiten? Gute Politik steht zu Fehlern. Die gezeigten Schwierigkeiten sind nicht Erscheinungen des Übergangs, sie sind Folgen planlosen Vorgehens. Deutschland muss jetzt bedeutet werden, dass noch keine tragfähige Grundlage gefunden ist. Das kostet nichts, da es keine bindenden Verträge gibt; die neue Rechtschreibung hängt politisch und juristisch in der Luft. Die Schule braucht ein Moratorium. Sie darf nicht gezwungen werden, schon wieder neue Wörter- und Schulbücher zu kaufen. Unabhängige Wissenschafter und Praktiker müssen das amtliche Regelwerk überarbeiten. In diesen Tagen wurde unter Federführung Filippo Leuteneggers, Nationalrat und CEO der Jean Frey AG (Weltwoche), die Gesellschaft «Schweizer Orthographische Konferenz» gegründet. Sie will die Einheit der Rechtschreibung fördern. Die Erziehungsdirektoren mögen sich von Rechtschreibräten trennen, die an der Ausarbeitung der neuen Rechtschreibung beteiligt waren und an ihrer Vermarktung arbeiten. Vertrauen verdienen Fachleute, wie sie jetzt in der Schweizer Orthographischen Konferenz die Zusammenarbeit aufgenommen haben. Die Erziehungsdirektoren selbst müssen verspieltes Vertrauen wiedergewinnen. Stefan Stirnemann ist Lehrer am Gymnasium Friedberg (Gossau) und Mitglied der Forschungsgruppe Deutsche Sprache. Rechtschreibe-Varianten 1991–2006
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