12.12.2004


Hans Krieger

Zehetmairs Mut und Chance

Der Ex-Kultusminister soll den Rechtschreib-Frieden stiften

In der Bayerischen Staatszeitung vom 10. Dezember gibt Hans Krieger, der Vorsitzende des »Rats für deutsche Rechtschreibung e.V.«, dem Vorsitzenden des »Rats für deutsche Rechtschreibung« in spe Hans Zehetmair – sozusagen von Rat zu Rat und von Hans zu Hans – guten Rat für die deutsche Rechtschreibung mit auf den Weg:

»Großes hat Hans Zehetmair sich vorgenommen als designierter Vorsitzender des Rates für deutsche Rechtschreibung, der in der kommenden Woche konstituiert werden soll. Er will der im Volk und noch mehr bei den Intellektuellen verhaßten Rechtschreibreform „die schlimmsten Zähne ziehen“, wie er in einem Zeitungsinterview sagte, und damit „die Gesellschaft mit der Reform versöhnen“. Und er will die Aufgabe in zügigem Tempo angehen, damit bis August 2005, wenn die Übergangsfrist endet und die Reformschreibung verbindlich wird, eine „konsensfähige Lösung“ auf dem Tisch liegt.

Hans Zehetmair weiß, worauf er sich einläßt. Er weiß, daß es nicht nur um die Konservierung eines Traditionsschatzes geht, sondern um die Bewahrung des Kulturgutes Sprache vor dauerhaften Substanzschäden. In einem programmatischen Aufsatz für die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat Zehetmair diese Schäden klar benannt: Durch den Reformzwang zu forcierter Getrenntschreibung gehen unerläßliche semantische Differenzierungen verloren, und die Ausdrucksvielfalt wird geschmälert; die Lockerung der Interpunktionsregeln schwächt die Deutlichkeit des Satzbaus; die Beliebigkeit sprachwidriger Silbentrennung beeinträchtigt die Genauigkeit beim Lesen und Schreiben und damit beim Denken; die Germanisierung von Fremdwörtern mindert die internationale Anschlußfähigkeit des Deutschen im Zeitalter der Globalisierung.

Nahezu alle Kernpunkte der Reformkritik sind in diesem Katalog nicht nur aufgelistet, sondern in ihrem Zusammenhang erkannt und in ihrer Bedeutung für die Sprachkultur und die gesellschaftliche Kommunikation verstanden. Wichtig ist Zehetmair der Hinweis, daß mangelnde sprachliche Genauigkeit zur Ungenauigkeit des Denkens führt. Mit einem ausdrücklichen Verweis auf die schlechten Leistungen deutscher Schulkinder im verstehenden Erfassen von Texten bei der Pisa-Studie unterstreicht Zehetmair die Dringlichkeit der Abhilfe. Und nur ein wichtiger Punkt fehlt in seiner Aufzählung der „schlimmsten Zähne“: Beseitigt werden müssen auch die grammatikwidrigen Schreibungen, weil sie langfristig die Fundamente des Sprachverständnisses aushöhlen. Dazu gehören nicht nur Schreibungen wie „so Leid es mir tut“ (laut Duden 2004 nicht mehr zwingend geboten, aber zulässig) oder „wie Recht du doch hast“, sondern auch die Großschreibung adverbialer Wendungen wie „morgen Abend“, „im Übrigen“ oder „des Weiteren“, und Binnen-Großschreibungen wie „der 81-Jährige“.

Wer die Fehler der Reform so exakt benennen kann wie Hans Zehetmair, weiß natürlich auch, daß es sich nicht um vereinzelte Ausrutscher, sondern um systemische Mängel handelt, denen mit punktueller Nachkorrektur nicht beizukommen ist. Der Prozeß der Reform der Reform, der mit der Neuauflage des Duden vom August 2000 begann und mit der jüngsten Duden-Auflage vom Herbst 2004 seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte, hat klar vor Augen geführt, daß ohne Preisgabe der reformerischen Regelsystematik nur Flickschusterei möglich ist, die jede Verbesserung im Detail mit noch größerer Undurchschaubarkeit des Ganzen bezahlt. Der Wirrwarr in der Getrennt- oder Zusammenschreibung etwa kann nur behoben werden, wenn sämtliche vor der Reform übliche Zusammenschreibungen wieder zur Regelschreibung werden, also der Status quo ante wiederhergestellt wird; da die Reform die Sprachentwicklung um fast 200 Jahre zurückgedreht hat, wäre dies kein „Salto rückwärts“, sondern ein Schritt nach vorne. Auch der Rat für deutsche Rechtschreibung kann nur das Chaos vermehren, wenn er die Reform nicht grundsätzlich in Frage stellen und die seit 1996 erschienenen Wörterbücher nicht ungültig machen darf.

Versucht Zehetmair das Unmögliche? Vielleicht ist er der einzige, der überhaupt noch etwas bewegen kann. Er hat früh opponiert und dabei Unerschrockenheit vor Wirtschaftsinteressen bewiesen, die Reform dann als Kultusminister loyal mitgetragen, aber zuletzt als einziger öffentlich eingestanden, daß und warum sie ein unverzeihlicher Fehler war. Und als Elder Statesman ist er mit Karriererücksichten nicht mehr erpreßbar. Freilich steht er einem Gremium vor, das mit vorgesehenen 36 Mitgliedern viel zu schwerfällig ist; bei vielen Mitwirkenden sind zudem die standespolitischen und wirtschaftlichen Interessen klarer erkennbar als die Sachkompetenz. Schon Zehetmairs Vorsatz, den Schriftstellerverband PEN und die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung ins Boot zu holen, dürfte nur dann Erfolgsaussichten haben, wenn eine veränderte Zusammensetzung des Rates den Reformkritikern echte Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet.

Zehetmair hat nur dann eine reelle Chance, wenn er aufs Ganze geht. Das heißt: wenn er darauf besteht, es nicht bei einer Schönheitsoperation zu belassen, sondern das Übel an der Wurzel zu packen. Nur dann läßt das immer noch mögliche Scheitern sein Prestige unbeschädigt: Er hat sein Bestes getan. Die Richtung hat er mit dem Satz gewiesen, wir hätten jetzt zu einer einheitlichen Rechtschreibung „zurückzukehren“. Geht er den bequemeren Weg der kleinen Anpassungen, so ist ihm ein klägliches Scheitern gewiß. Durch den Scheinerfolg einer Minimalkorrektur wird niemand sich täuschen lassen; Zehetmair stünde da als einer, der sich dazu hergab, mit taktischen Winkelzügen lediglich der Reformkritik den Wind aus den Segeln zu nehmen. Der Rechtschreibfrieden ist so nicht wiederzugewinnen. Versöhnung, Zehetmairs großes Ziel, setzt Wahrhaftigkeit voraus. Das heißt als erstes: Den Reformkritikern muß mehr eingeräumt werden als eine Feigenblattfunktion. Zu Zugeständnissen werden gewiß auch sie bereit sein, wenn restlos alles zurückgenommen wird, was die Sprache in ihrer Substanz beschädigt. Ein eleganter Ausweg aus der Sackgasse steht immer noch offen.«


Quelle: Bayerische Staatszeitung, 10.12.2004


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