28.07.2007


Theodor Ickler

Das große Lamento

Die ZEIT beklagt den Sprachverfall

Die ZEIT hat am 26.7.07 einen Sonderteil über die deutschen Sprache.
Dabei geht es teils um die Geltung des Deutschen unter den Sprachen der Welt, insbesondere um das Vordringen der Weltsprache Englisch, teils um „Sprachverfall“, besonders Anglizismen und anderes Kauderwelsch. Jens Jessen schreibt – offenbar ohne parodistische Absicht –: „Der Geist eines ridikülen Marketings, der in der Managersprache steckt, will Exklusivität, die elitäre Anmutung eines arkanen Wissensvorsprungs.“
Wie viele deutsche Muttersprachler kennen das Wort arkan? Warum ridikül?
Die Rechtschreibreform wird natürlich mit keiner Silbe erwähnt. Jens Jessen fragt: „Was hat der englische Genitiv-Apostroph in Susi's Häkelstudio zu suchen?“ Nun, den hat die Rechtschreibreform uns beschert, der sich die ZEIT mit Stolz und früher als andere in die Arme geworfen hat.

Die Sprachkritik wird auf Kritik an PowerPoint-Darbietungen ausgedehnt. Aber selbst hier schwingt dieselbe Amerikagläubigkeit mit, die auch zur Übernahme englischer Brocken führt: „Über die Ausdrucksweise der PowerPoint-Präsentationen wird in den USA längst gespottet.“ (Jessen) Auch bei uns wird darüber gespottet, aber das Argument gewinnt seine Schlagkraft offenbar erst dann, wenn man auf das stets führende Amerika verweisen kann.
Dieter E. Zimmer gibt sich liberal: „(Wer Sprachbewusstsein besitzt), weiß, dass das Perfektpartizip von winken bis vor etwa dreißig Jahren hochsprachlich einzig gewinkt hieß und gewunken zunächst ein Scherz war, eine Analogie zu gestunken, aber wenn die Sprachgemeinschaft heute auf gewunken besteht, wird er sich dem nicht widersetzen.“
Die starke Konjugation ist kein Scherz der letzten Jahrzehnte, sondern begann im Mittelalter und herrscht weithin in den Dialekten. Die Ablösung der angeblich „hochsprachlichen“ Formen (über deren Festlegung sich Zimmer wenig kümmert) muß im Zusammenhang mit dem Vordringen von süddeutschen Eigenheiten gesehen werden. Das kulturelle Schwergewicht verlagert sich in Deutschland eben allmählich auf Süddeutschland.

Zimmer zitiert ein wirres Internetgeschreibsel und kommentiert: „Dieses Internetdeutsch missbraucht die Sprache, indem es ihre expressiven und kommunikativen Möglichkeiten weit unterschreitet.“ Was mag das bedeuten? In Wirklichkeit läßt uns das Internet vieles lesen, was früher allenfalls gesprochen wurde und mit der mündlichen Rede verweht war, bevor jemand es auf die Goldwaage der „expressiven und kommunikativen Möglichkeiten“ legen konnte.
Manche Fremdwörter heißt Zimmer willkommen, weil sie ausdrücken, „wofür Deutsch bisher gar keinen Ausdruck hatte, oder keinen so klaren und knappen (Scan, scannen); wo sie eine semantische Nuance hereinbringen, die ihre Wörterbuchübersetzung nicht hat (Team ist eben nicht dasselbe wie Mannschaft oder Belegschaft); wo sie der semantischen Bereicherung dienen (Kid ist nicht dasselbe wie Kind).“
Das Argument, es sei „nicht dasselbe“, ist schon von Eduard Engel ad absurdum geführt worden, wobei er sich auch auf Lessings bekannten Satz beziehen konnte: „Was die Leser fürs erste bei dem Worte noch nicht denken, mögen sie sich nach und nach dabei zu denken gewöhnen.“ Absurd ist es, weil kein Wort einer Sprache dasselbe bedeutet wie ein Wort einer anderen Sprache und es somit geboten wäre, die Vokabulare aller anderen Sprachen um der „semantischen Nuance“ willen in die eigene zu übernehmen. Wie schaffen es die Angelsachsen bloß, ohne die deutschen Wörter Mannschaft, Belegschaft auszukommen? Wie hilflos waren wir, bevor wir die Kids übernahmen? Das Scannen hieß seit je Abtasten, und dabei hätte es bleiben können; die technische Neubedeutung hätte sich zwanglos ergeben, wie bei so vielen anderen Wörtern (z. B. einlesen).

Claus Leggewie spricht von „lateinisch parlierenden Gelehrten des Mittelalters“. Wieso parlieren? Das ist doch gerade kein Latein. Besser Josef Joffe: „im 18.Jahrhundert wurde Französisch 'parliert'“. Dann allerdings leitet er Bluse von blouson her (statt einfach von blouse) und mausetot von mort si tôt – was eine Etymologie vom Schlage jenes visitez ma tente (Fisimatenten) sein dürfte.
Die Wendung wer Sprachbewusstsein besitzt verwendet Zimmer mehrmals. Nie würde er einfach haben sagen, es muß das übergewichtige besitzen sein.


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