16.05.2005


Theodor Ickler

Fürsorglicher Zwang

»Augst: Schon vor der Reform haben viele – nicht etwa nur Kinder und Halbalphabeten – Begriffe wie „im Voraus“ groß geschrieben, weil sie den Ausdruck als Substantiv verstanden haben.
Da haben wir gesagt, okay, soll man’s doch einfach groß schreiben.

- Und sich damit von der Grammatik entfernen?

Augst: In dem Fall ist das eindeutig so, anderswo weniger: Ich habe Linguisten erlebt, die sich stritten, ob bei „heute Abend“ ein Adverb oder ein Substantiv vorliegt. Wenn die sich schon nicht einigen, kann man das doch auch dem Normalschreiber nicht zumuten.« (Märkische Allgemeine Zeitung vom 2.5.2002, Interview mit Benno Schirrmeister)

Die Reformer haben keineswegs gesagt „Okay, soll man’s doch einfach groß schreiben“, sondern sie haben die Großschreibung streng vorgeschrieben.
Bisher haben die wenigen einen Fehler gemacht, die im Voraus, heute Abend schrieben. In Zukunft machen die vielen einen Fehler, die im voraus, heute abend schreiben, wie es seit über hundert Jahren allgemein üblich und sinnvoll ist. Dasselbe gilt für die „Etymogeleien“: die vielen, die richtig einbleuen, Zierat usw. schreiben, werden ins Unrecht gesetzt, und die Letzten werden die Ersten sein.
Das ist die Grundfigur der Augstschen Argumentation, der für seine volksetymologischen Einfälle sogar das Demokratiegebot bemüht: Wie der Mann auf der Straße glaubt, daß die Wörter aufgrund ihrer Wortfamilienzugehörigkeit geschrieben werden, so und nur so sollen sie in Zukunft geschrieben werden. Wobei der Zusammenhang aber dem Mann auf der Straße überhaupt nicht bewußt war, bevor Augst ihn stellvertretend konstruierte. Die „synchrone etymologische Motivation“ wird von Augst erfunden.
Wenn man das Demokratie-Argument (in Augst et al. 1997, S. 124f.) zu Ende denkt, muß man Leistung und Qualität überhaupt als undemokratisch verurteilen. Die Diktatur des Proletariats fordert allerdings noch mehr: Die "Hochwohlgeborenen" (Müntefering) müssen gedemütigt werden, ihr Wissen darf ihnen nicht nur keinen Nutzen bringen, es muß ihnen zum Nachteil gereichen, diesen Heuschrecken unseres Schulsystems.


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