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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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08.03.2005
 

Agenda: GKS

Im Gegensatz zu einigen Presseartikeln läßt das Protokoll der zweiten Sitzung nicht erkennen, daß sich der Rat auf die Reparatur der Getrennt- und Zusammenschreibung beschränken und sonst allenfalls die ziemlich unwichtigen Gebiete der Fremdwortschreibung und Zeichensetzung besprechen will.
In der Tat ist zum Beispiel die Groß- und Kleinschreibung ebenso revisionsbedürftig. Ich stelle ein erstes Diskussionspapier für die Agenda hierher:

Worauf ist bei der Revision der reformierten Groß- und Kleinschreibung zu achten?

Die Großschreibung hat sich von Luther bis Gottsched zunächst zur Substantivgroßschreibung (also zur Auszeichnung einer Wortart) entwickelt und ist im Laufe der letzten Jahrhunderte zu einer textsemantischen Profilgebung weitergebildet worden: Die sinntragenden Einheiten sind durch große Anfangsbuchstaben auffällig gemacht, das bloße adverbiale und pronominale (v. a. textverweisende) Beiwerk ist durch Kleinschreibung visuell in den Hintergrund gedrängt worden. Die Neuregelung stemmt sich gegen diese Entwicklung, indem sie Kleinschreibung bei Nominationsstereotypen (erste Hilfe) und Großschreibung bei Adverbialien und Pronomina (im Allgemeinen, des Öfteren, bei Weitem; Folgendes, Letzterer) durchzusetzen bzw. wiedereinzuführen versucht. Beides war schon im 19. Jahrhundert bereinigt worden, die Reform ist in hohem Maße rückwärtsgewandt. Im einzelnen ergeben sich folgende Forderungen (Paragraphen nach der Neuregelung von 1996):

§ 55 (3) Die Regel, daß substantivische Bestandteile im Inneren fremdsprachiger Fügungen groß geschrieben werden sollen, stellt außerordentlich hohe Anforderungen an den Schreibenden, der ja die Wortart in der Fremdsprache kennen muß: Herpes Zoster, Dativus Commodi (?) usw. Außerdem ist es widersprüchlich, fremde Substantive groß, fremde Adjektive aber keineswegs klein zu schreiben; konsequent wäre ultima Ratio, dolce Vita usw. Die Neuregelung ist daher zugunsten der sehr einfachen bisherigen Regelung aufzugeben: das erste Wort groß, alles übrige klein: Ultima ratio, Commedia dell'arte usw. (Da bei englischen Entlehnungen, die im Deutschen eine Sonderstellung haben, bisher schon eine große Unsicherheit herrschte, könnte man die Regel hierauf ausdehnen und verallgemeinern: Centre court, Big band, Hot jazz usw.)

§ 55 (6) Die Kleinschreibung der Tageszeiten (heute morgen usw.) ist wiederherzustellen. An der zweiten Stelle solcher Verbindungen kann, wie Peter Gallmann schon 1991 gezeigt hat, kein Substantiv stehen. Es kommt nicht darauf an, ob irgendein Grammatikmodell hier ein „Adverb“ nachweisen kann oder nicht.

§ 56 Die falsche Einstufung einiger Wörter wie leid als ehemalige Substantive ist zu korrigieren. Man kann nicht oft genug an Konrad Dudens klassisch-klare Darlegung erinnern: „Bei Ausdrücken wie leid tun, not tun, weh tun, schuld sein, gram sein; mir ist angst, wol, wehe, not ist von selbst klar, daß das zum einfachen Verbum hinzugetretene Element nicht als Substantivum fungiert; (man erkennt) die nicht substantivische Natur jenes Zusatzes am besten durch Hinzufügung einer nähern Bestimmung. Man sagt er (...) hat ganz recht, hat vollständig unrecht u. dgl. Die Anwendung von Adverbien, nicht von Adjektiven, zeigt, daß man einen verbalen Ausdruck, nicht ein Verb mit einem substantivischen Objekt vor sich hat.“ (Die Zukunftsorthographie (usw.). Leipzig 1876, S. 70)

§ 57 ist im Sinne von H. H. Munskes ausführlich begründeter Darstellung zu korrigieren:
• Kleinschreibung gilt in weitem Umfang für pronominal gebrauchte „Substantivierungen“ wie das gleiche, jeder einzelne, der erste, der letztere usw.
• Ebenso ist die eingebürgerte Kleinschreibung bei phraseologisch gebrauchten „Substantivierungen“ anzuerkennen: im allgemeinen, im voraus, des öfteren usw.
Großschreibung ist hier – besonders bei Hervorhebung der lexikalischen Bedeutung – nicht falsch, aber längst unüblich geworden. Die ausschließliche Zulassung der Großschreibung läuft der modernen Sprachentwicklung entgegen.

§ 62 Die Verknüpfung von Apostroph und Großschreibung ist eine unnötige Änderung, die gestrichen werden sollte. Der Apostroph hat andere Aufgaben.

§ 63 Diese Regel wird der Sprachwirklichkeit noch weniger gerecht als die bisherige Dudenregelung. Es gibt viele „appellativische Nominationsstereotype“, die man gewöhnlich groß schreibt nach dem Muster von Schwarzes Brett. Hier sollte man eine breite Übergangszone anerkennen, die sich nicht abschließend regeln läßt.

§ 66 Die neu verordnete Kleinschreibung der Briefanrede (du, ihr) ist ein unzulässiger Eingriff des Staates in private Ausdruckskonventionen und daher zurückzunehmen. (Die Presseagenturen haben im Widerspruch zur Neuregelung die Großschreibung sogar noch ausgedehnt, was ebenfalls nicht gutzuheißen ist.)

Insgesamt sollte bei der Groß- und Kleinschreibung gar nichts neu geregelt werden, ausgenommen die manchmal zu dogmatische Darstellung im Wörterverzeichnis des Duden (im trüben fischen, sein Schäfchen ins trockene bringen).



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Kommentare zu »Agenda: GKS«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.11.2018 um 05.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=33#40180

„Wir sind Viele, jeder Einzelne von uns“

Unter dem Motto „Wir sind viele, jeder einzelne von uns“ kamen zeitgleich unter anderem auch in Berlin, Hamburg und Dresden Vertreter von Kultureinrichtungen zu der bundesweiten Aktion zusammen.
(RP 9.11.18)

Dieses Schwanken im selben Text spiegelt den gegenwärtigen Zustand wider.

(„Jeder einzelne von uns“ ist eine Formel, die in Sonntagsreden und moralischen Appellen beliebt ist und die Zuhörer so recht zudringlich packen soll. Man kann noch „wir alle“ voranstellen. Im Alltag sagt man einfach „jeder“.)

Niemand kann wissen, was jeder Einzelne unter den Tausenden von Betern gedacht, empfunden, geglaubt hat. (Ulrich Greiner ZEIT 21.12.05)

Das Problem ist, daß hier jeder einzelne Beter unter den Tausenden von Betern zugrunde gelegt werden könnte, woraus adjektivische Kleinschreibung in der Ellipse folgen würde. Also: jeder einzelne unter den Betern, aber jeder Einzelne unter uns. Das widerspricht der Intuition, daher das Schwanken.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.10.2010 um 19.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=33#16962

Schon vor zehn Jahren schrieb die ZEIT: Raison d'Être. Ein besonderer Leckerbissen, finde ich.
 
 

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