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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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06.09.2005
 

Nachlese

Zurück aus dem Urlaub, möchte ich meine vermischten Randbemerkungen zur gehabten Diskussion hier einrücken.

Auf meiner Insel ist mir das Erscheinen des Wahrig zunächst entgangen, ich bin erst gegen Ende durch einen SPIEGEL-Redakteur darauf hingewiesen worden. Sauers Kritik an der Tatsache, daß die Wörterbücher nicht genau denselben Stichwortbestand auflisten, ist läppisch. Eine Diskussion der eigentlichen Probleme, die mit dem neuen Wahrig verbunden sind, hat offenbar noch nicht stattgefunden. Chefredakteurin Krome sitzt im Rat für deutsche Rechtschreibung und weiß, daß wir dort die Revision der Reform vorantreiben und die Teilverbindlichmachung der „unstrittigen“ Reformteile ein Windei ist. Wie kann sie ein solches Wörterbuch zum gegenwärtigen Zeitpunkt verantworten? Was ist damit bezweckt? Darum sollte es zunächst gehen.

Zur ss-Regelung war eigentlich alles schon gesagt. Die Heysesche Schreibung ist linguistisch harmlos, lesepsychologisch aber nicht das Gelbe vom Ei. Das war vor 100 Jahren (Otto Lyon usw.) durchaus schon bekannt. Die Reformer wollten eigentlich die Einheitsschreibung „das“, nicht die Heyseschreibung generell. Ihr Plan, von Mentrup mit großer Ausdauer und Leidenschaft verteidigt, zerschlug sich. Dies und anderes (GKS, Fremdwörter) läßt die Reform als große Ruine erscheinen. Es paßt hinten und vorne nichts zusammen, eine klare Konzeption läßt sich nicht erkennen, was ein Grund für die vielen falschen Anwendungen (Übergeneralisierungen) sein dürfte.

Selbst wenn die Reform nur überflüssig und nicht so falsch wäre, wie sie es in der Tat ist, müßte man sie schädlich nennen, wie alle überflüssigen Reformen.

Übrigens kann ich nicht finden, daß die (wirkliche oder eingebildete) Beliebigkeit von sehr vielen Menschen begrüßt wird. Ich stoße mehr auf Gleichgültigkeit und Verachtung für das, was die da oben nun auch auf diesem Gebiet ausgeheckt haben.

Sitta und Gallmann, die es wissen müssen, haben über die Neuregelung geschrieben: „Das Regelwerk ist ein juristischer Text.“ Mich wundert zweierlei: Keiner der Reformer ist Jurist – wie kommen sie dazu, juristische Texte zu verfassen? Und zweitens: Wieso wird die Schriftgestalt der deutschen Sprache in einem juristischen Text festgelegt? Wenn überhaupt, wäre doch ein sprachwissenschaftlicher Text zu erwarten. Darüber wird hierzulande viel zu wenig diskutiert, und doch ist es der Schlüssel zur Lösung.

Schavan und Wolff haben die Kommission nicht nur aus Einsicht in deren Unfähigkeit aufgelöst, sondern – wie Wolff auch brieflich mitteilt – um einen Befreiungsschlag zu versuchen, nachdem die Kommission sich in der Öffentlichkeit bis zur Nichtakzeptanz diskreditiert hatte. Der „Rat“ war als Zusammenfassung von Kommission und Beirat gedacht (das hat der Verband der Schulbuchverleger sofort erkannt) und sollte die bekannte Reformlinie unter neuer Verkleidung nahtlos fortsetzen. Es kam anders, aber das war die Absicht. Schavan hat auch die im vierten Bericht (Beschlußvorlage) vorgesehene Ermächtigung der Kommission nicht deshalb zu Fall gebracht, weil sie sie nicht gewollt hätte – im Gegenteil. Sie war nur nicht durchsetzbar, weil die Öffentlichkeit sich rechtzeitig darauf gestürzt und das Projekt zerrissen hat. KMK und Amtschefskommission reagierten panisch und legten eine Denkpause ein. Schavan, Wolff, Reiche kamen dann auf die Lösung: Der „Rat“ soll ja unter anderem Namen und in leicht veränderter Zusammensetzung genau das sein, was die Kommission nicht sein durfte. Das ist die andere Seite der „Unabhängigkeit“, die dem Rat im Gegensatz zur Kommission nachgesagt wird, u. a. vom Vorsitzenden.

Schavan, Wolff und die anderen haben von der Reform nie viel gehalten, aber das hat mit ihrem unbedingten Willen zur Durchsetzung der Reform nicht das geringste zu tun. Politiker denken anders als Wissenschaftler. Letztere meinen, wenn etwas objektiv falsch ist, kann es um keinen Preis aufrechterhalten werden. Politiker fragen sofort nach diesem Preis, und der ist grundsätzlich Verhandlungssache. Zur Zeit glauben die Kultusminister und Ministerpräsidenten noch mehrheitlich, daß der Preis für die Rückkehr zur Wahrheit und Sprachrichtigkeit zu hoch wäre. Das kann sich ändern, der Klotz am Bein könnte zu schwer werden. Dann werden sie die Reform aufgeben, aber nicht weil sie falsch war, sondern weil sie nicht mehr opportun ist. Man kennt Briefe von allen diesen Leuten, aus denen das ganz klar hervorgeht.

Wie Herr Gerdes bewundernswert klar darstellt, reagierten Schavan und die KMK insgesamt ungehalten auf die Renitenz der Kommission. Die vergaloppierte sich, als sie den Strohhalm zurückwies, den die KMK in dem (sachlich verfehlten, aber hübsch verpackten) Kompromißangebot der DASD entdeckt hatte. Mir ist nach Durchsicht zahlreicher Dokumente erst so richtig klar geworden, wie groß die Hoffnung war, die die KMK in die DASD gesetzt hatte. Sie verdonnerte die Kommission zu mehreren Verhandlungsrunden mit den verhaßten Kollegen (also Eisenberg, über dessen Verhältnis zu Augst und Genossen genug bekannt ist), und die Kommission machte ihrem Ärger in sehr unklugen, obwohl sachlich ausnahmsweise berechtigten Tiraden Luft. Das war zuviel, und in diesem Augenblick kam Schavan usw. die rettende Idee mit dem „Rat“.

Bei Schavan, Wolff u. a. wirkt das Engagement für die Reform irgendwie unnatürlich, übereifrig, nicht durch eigene Beschäftigung mit dem Gegenstand motiviert, so daß man auf sachfremde Einflüsse tippen möchte. Schavan ist ungemein ehrgeizig, das kann sich so oder so auswirken. Alle Äußerungen aller Politiker zur RSR zusammengelegt, könnte man die Welt für ein Irrenhaus halten, aber andererseits kennen wir ja die bewährte Maxime der Politiker: „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern!“ Gestern sollte die Rechtschreibreform die Reformfähigkeit Deutschlands beweisen, morgen kann die Reform der Rechtschreibreform denselben Zweck erfüllen. Insofern besteht noch Hoffnung.

Was die Diskussion zu den Mängeln der Reform betrifft, so neige ich insgesamt zur Mahnung von Herrn Jochems, die Kirche im Dorf zu lassen. Obwohl ich es, wie jeder weiß, an Schärfe der Kritik nicht fehlen lasse, habe ich doch stets und auch manchmal gegen den Widerspruch meiner Freunde versucht, das wirklich Unterträgliche sorgfältig vom nur Ungewohnten zu trennen. Unter den Salzburgschen Fällen "zu viel", "wehtun", "fallen gelassen", "nahe stehend", "aufrecht erhalten", "mithilfe", "zusammen leben", "kaputt machen", "breit gefächert", "loswerden", "hoch qualifiziert" vs. "hochintelligent"; "Halt machen", "wurde Letzter", "das Ganze" ist kaum etwas, worüber ich mich aufregen würde. Mein Wörterbuch ist ja ebenfalls auf dieser Toleranz aufgebaut, wie sie sich aus der Sprachbeobachtung ganz von selbst ergibt. Ich bekomme Unmassen von Briefen, in denen Dinge angeprangert werden, die keinen weiteren Fehler haben, als daß sie gegen irgendeine Dudennorm von anno dazumal verstoßen. Der Aufforderung, dagegen einzuschreiten, kann ich dann leider nicht folgen, und meistens antworte ich gar nicht mehr, schon weil ich dazu keine Zeit habe. (Ich soll auch ständig Gedichte und andere Elaborate beurteilen und einen Verleger dafür finden ... Und wenn ich denn schon beim Lamentieren bin, möchte ich auch alle Studenten hiermit bitten, mich nicht um Literaturhinweise für Seminararbeiten usw. zu ersuchen – das ist wirklich Ihre Aufgabe und nicht meine!)

Daß der Duden mit seinen Haarspaltereien auf dem Holzweg war, wußte Drosdowski und wissen die heutigen Redakteure sehr genau. Man rennt bei ihnen offene Türen ein, wenn man einen anderen Weg anmahnt. Leider stehen sie unter der Fuchtel der Reform, aber vielleicht ändert sich das ja einmal, dann wird man mit Recht auf eine bessere Lösung hoffen können. Ich bilde mir ein, daß sie ungefähr in der Richtung meines Wörterbuchs zu finden sein dürfte.

„heute Abend“ ist nicht ganz und gar falsch, obwohl auch nach den Maßstäben der Reformer an dieser Stelle kein Substantiv stehen kann. Aber der Übergang vom adverbialen Akkusativ zum Adverb ist naturgemäß fließend, so daß man die Kleinschreibung hier als modern und fortschrittlich begrüßen darf. Die Großschreibung hat es natürlich einmal gegeben, sie war aber fast gänzlich überholt, ich kann mich gar nicht erinnern, ihr in Texten der letzten 50 Jahre noch einmal begegnet zu sein. Ihre Wiedereinführung, nun gar noch obliatorisch, war so unnötig wie die des fakultativen „hier zu Lande“.

Zuerst haben die Reformer behauptet, der normale Sprachteilhaber empfinde „Abend“ hier als Substantiv, was natürlich Unsinn ist. Dann erkannte Gallmann, daß die Wortart in diesem Falle überhaupt nicht klar sei, und empfahl, deshalb nach der Wortart des nächstliegenden Homonyms zu urteilen, und das sei nun mal der „Abend“ (nachdem er zehn Jahre zuvor bewiesen hatte, daß es kein Substantiv sein könne ...). So schafft man Probleme, wo keine sind, und präsentiert wechselnde Lösungen, mit denen sich der Rest der Sprachgemeinschaft dann herumschlagen muß. Wer hätte gedacht, daß am Ende des 20. Jahrhunderts die richtige Schreibung von „heute abend“ ein Diskussionsgegenstand werden würde? Übrigens fehlt in sämtlichen Wörterbüchern, was ich kürzlich in einem Jugendbuch gefunden habe: „neulich Nacht“ (Stefan Wolf: Der Diamant im Bauch der Kobra. Hannover 1998, S. 171). Sieht komisch aus, nicht wahr?

Noch ein Wort über Proportionen. Druckfehler und andere Nachlässigkeiten hat es immer gegeben, kein Mensch von Geschmack wird sich unmäßig darüber aufregen. Etwas grundsätzlich anderes sind die reformbedingten Schnitzer, auch wenn sich substantiell gar nicht mehr ändert als bei einem Druckfehler. Im letzten Heft (2/2005) von „Wirtschaft und Wissenschaft“ (Stifterverband) ist ein Festvortrag Peter von Matts abgedruckt. Er ist Reformgegner, aber das nützt ihm gar nichts, der Redakteur (Michael Sonnabend) hat den Text auf Reformschreibung getrimmt – gnadenlos und gedankenlos. von Matt zitiert Gottfried Keller: „ein so genannter Lump“. Nicht genug mit dem reformierten Zitat, der Redner fährt fort: „das Wörtchen 'so genannt'“. Das Wörtchen ist zu zwei Wörtchen geworden, der Redner steht als etwas beschränkt da.

Ein Druckfehler „so genannt“ wäre gleichgültig, aber diese Mischung aus Besserwisserei und blindem Gehorsam ist empörend.

Dasselbe war ja dem Historiker Wolfgang Reinhard widerfahren: das beliebte Adjektiv „viel beachtet“ (Wirtschaft und Wissenschaft 1/2002), obwohl Redakteur und Verband schon damals über die Rechtschreibreform genau im Bilde waren, spätestens seit der Verleihung des Deutschen Sprachpreises 2001 an mich.



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Kommentare zu »Nachlese«
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Kommentar von Matthias Künzer, verfaßt am 08.09.2005 um 09.49 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=215#916

> Unter den Salzburgschen Fällen "zu viel", "wehtun", "fallen gelassen", "nahe stehend", "aufrecht erhalten", "mithilfe", "zusammen leben", "kaputt machen", "breit gefächert", "loswerden", "hoch qualifiziert" vs. "hochintelligent"; "Halt machen", "wurde Letzter", "das Ganze" ist kaum etwas, worüber ich mich aufregen würde.

1. Der Schreiber (ja, auch der hat Probleme!) weiß nicht, woran er sich halten soll.
"Voll tanken"? "Fern sehen"? "Besorgnis erregend"? "äußerst Besorgnis erregend"?
Diese Verunsicherung ("darf ich noch so schreiben?") führt in vielen Fällen zu
unfreiwilliger Komik qua selbsterfundener Schreib-Weisen.

2. Es ist aussprachewidrig. Niemand spricht zwischen "fallen" und "gelassen" die
kleine Pause, die zwischen getrennt stehenden Wörtern üblicherweise eingefügt wird.
Der Textfluß geht verloren, es entsteht ein Hick Hack.

> Und wenn ich denn schon beim Lamentieren bin, möchte ich auch alle Studenten hiermit bitten, mich nicht um Literaturhinweise für Seminararbeiten usw. zu ersuchen – das ist wirklich Ihre Aufgabe und nicht meine!)

In diesem Forum werden alle nicht sachbezogenen Beiträge nachrangiger Schreiber gelöscht.

> spätestens seit der Verleihung des Deutschen Sprachpreises 2001 an mich.

Ja doch.

 
 

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