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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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26.05.2014
 

"Bildungssprache"
Ein Fall von Marketing

Vor einigen Jahren kamen Sprachdidaktiker im Umkreis von "Deutsch als Zweitsprache" auf die Idee, im Anschluß an einen älteren Vortrag von Jürgen Habermas den Begriff "Bildungssprache" zum Programm zu erheben.
Die mehr oder weniger ungeschickten Definitionsversuche ("Das Register der Bildungssprache ist kommunikativ auf vorwiegend schriftliche Situationen bezogen, auch wenn es zugleich medial mündlich im Gebrauch ist") zeigen, daß es sich einfach um die Standard- oder Schriftsprache handelt. Wer es schafft, mit seinem Namen einen solchen Begriff zu verbinden, wird als Experte eingeladen und herumgereicht - ein sich selbst verstärkender Effekt, es werden Tagungen zu dem scheinbar neuen Thema veranstaltet usw. (Man denke an Ulrich Beck und die "Risikogesellschaft".)
Das dünne Angebot wird etwas dauerhafter gemacht, wenn man es mit dem Begriff der "durchgängigen Sprachbildung" verbindet, womit gemeint ist, daß die Lehrer verschiedener Fächer ihren Unterricht aufeinander abstimmen sollen. Auch nicht umwerfend neu, aber beides zusammen kann eine ganze Weile funktionieren und bis in höchste Kreise (Kultusministerien) hinaufführen.
Von der Banalität des Ganzen unter dem bombastischen Wortschwall kann man sich kaum eine Vorstellung machen - googeln Sie mal!



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Kommentare zu »"Bildungssprache"«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.11.2022 um 04.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1613#49852

Gerhard Augsts "Bildungswortschatz" tauchte bald nach Erscheinen im "Modernen Antiquariat" auf, d. h. das Buch wird kaufhausmäßig verramscht oder einer billigen Zweitverwertung zugeführt. Man kann es eigentlich zu nichts gebrauchen, nicht einmal zum Lösen von Kreuzworträtseln. Das wäre nicht erwähnenswert, wenn es nicht eine lexikographisch interessante Seite hätte: Ganz ähnlich wie Augsts "Wortfamilienwörterbuch" und das "Paronymwörterbuch" des Instituts für deutsche Sprache hat es kein sinnvolles Konzept und keine objektivierbare Methode. Zugrunde liegt eine flüchtige Idee: Man könnte doch mal... Ich erinnere mich noch, wie Augst die damals frische Idee der "synchronischen etymologischen Kompetenz" vortrug. Es gelang den Fachkollegen nicht, ihm das wieder auszureden, und so nahm die Geschichte ihren Lauf (wie auch gleichzeitig bei Augsts damit zusammenhängender Vorstellung einer Rechtschreibreform, die seinen kindlichen volksetymologischen Einfällen recht geben würde).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.01.2020 um 09.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1613#42798

Gerhard Augst erklärt fünf Bildungswörter:

https://www.youtube.com/watch?v=1LRkSboN2_Y

Aber was bedeutet das sechste ("Hehehehe")?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.10.2019 um 09.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1613#42290

Alles interessant, metallurgisch usw., aber die Hauptsache ist doch, daß eine Erde noch so selten sein kann und trotzdem nicht groß geschrieben wird, bis auf die Seltenen Erden eben (und die sollen ja klein geschrieben werden...).

Wie schon erwähnt, hing im Chemiesaal aller meiner Schulen das Periodensystem an der Wand. Die Actinoide und Lanthanoide waren herausgenommen und unterhalb gesondert dargestellt, damit sie die Symmetrie des Ganzen nicht störten. So hat es sich mir eingeprägt, vor über 60 Jahren. Vielen wird es ähnlich gehen.
 
 

Kommentar von Gunther Chmela, verfaßt am 21.10.2019 um 19.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1613#42289

Lieber Herr Riemer, die Seltenheit der Seltenen Erden beruht vor allem darauf, daß diese Elemente nirgendwo wirklich in größerer Anreicherung, z. B. als reine Minerale (oder gar in gediegener Form) zu finden sind, sondern immer nur mit relativ geringer Konzentration als Beimengung in anderen Mineralen bzw. Gesteinen. Das hat vor allem seinerzeit ihre Auffindung und Reindarstellung enorm erschwert. Dazu kommt zusätzlich erschwerend, daß sie meist noch untereinander vermischt auftreten.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 21.10.2019 um 14.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1613#42288

So habe ich es zwar irgendwo gelesen, aber aus den Tabellen geht hervor, daß das radioaktive Promethium eine Ausnahme macht. Als einziges der 17 Seltenen Erden ist es wirklich sehr selten.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 21.10.2019 um 14.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1613#42287

Was mir als Nichtchemiker bei den Seltenen Erden immer interessant erscheint, ist, daß sogar die seltenste der Seltenen Erden immer noch häufiger vorkommt als z.B. Gold.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.10.2019 um 07.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1613#42285

Zum Problem des Bildungswortschatzes ohne Bildung:

Man kann sein Leben lang die „Quadratur des Kreises“ erwähnen (wie kürzlich die Bundeskanzlerin; bei Augst fehlt der Ausdruck) und davon hören oder lesen, ohne zu wissen, was darunter ursprünglich verstanden wurde. In dieser Hinsicht ist die Wendung anderen „toten“ Metaphern vergleichbar. Anders sind Fachausdrücke wie „Seltene Erden“ zu beurteilen. Der Sachwortschatz funktioniert nach dem Grundsatz der linguistischen Arbeitsteilung (Hilary Putnam). Über Wasser, Gold und eben auch Seltene Erden kann man so viel wissen, wie in eine Lexikonzeile paßt, oder so viel, daß ein Band von tausend Seiten nicht ausreicht. Der Laie weiß, daß es Experten gibt, und umgekehrt. Beide können sich auf dieser Grundlage verständigen, wobei das Wissen beider sich nicht einmal zu überlappen braucht, denn der Laie kann auch falsche Vorstellungen mit dem fraglichen Ausdruck verbinden, also gerade keinen Auszug aus dem Expertenwissen beherrschen. Das ist oft bei historischen Gegenständen zu beobachten.

Neutronensterne werden in den Medien seltener erwähnt als Seltene Erden, sind daher dem Laien weniger bekannt (= sind weniger Laien bekannt). Hinzu kommt, daß der herkömmliche Bildungsbegriff die Naturwissenschaften nahezu übergeht.

Neulich sprach ich mit meiner Frau aus aktuellem Anlaß (die Twitterei des amerikanischen Präsidenten) über die Emser Depesche. Ich mußte feststellen, daß ich viele Einzelheiten vergessen hatte, obwohl mir die historische Bedeutung noch erinnerlich war. Bei Wikipedia steht sogar vieles, was ich nie gewußt habe. – Von dieser Art ist unser historisches Wissen zum allergrößten Teil (d. h. soweit wir nicht selbst Historiker mit Spezialkenntnissen sind).

Die Emser Depesche gehört zur Bildung, Neutronensterne nicht. Das wird sich vielleicht einmal ändern, aber ich werde es nicht mehr erleben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.12.2017 um 18.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1613#37186

(Ich habe einige Einträge zur "Bildungssprache", die unter "Pädagogik vom Tage" eingereiht waren, hierher überführt:)

Man besetzt eine Nische, indem man zum Beispiel den Begriff „durchgängige Sprachbildung“ wie ein Markenzeichen ununterbrochen benutzt und den Begriff „Bildungssprache“ in angeblich neuer Bedeutung für sich reklamiert. Es geht um die (schriftnahe) Standardsprache. Dieser Ausdruck wird bei Ingrid Gogolin und Helmuth Feilke geflissentlich gemieden, ebenso im Wikipedia-Eintrag aus derselben Quelle. So merkt man weniger leicht, daß es nichts Neues ist. Und das „Prinzip durchgängiger Sprachbildung“ nannten unsere Altvorderen: „Jede Stunde eine Deutschstunde“. Hier eine Textprobe zum Beweis:

Für die Zwecke der Förderung geht es darum, die sprachliche Verfasstheit des Lernens selbst anzuschauen, zu reflektieren, zu erproben und sich die bildungssprachlichen Potentiale auf diese Weise verfügbar zu machen. Das ist für alle Fächer und auch für den Deutschunterricht Neuland. Hierfür sind Ideen, Konzepte und Modelle erst zu entwickeln. Das Ziel wird mit teils bekannten Leitideen verknüpft. Hierzu gehört etwa das Prinzip einer „durchgängigen Sprachbildung“ (vgl. Gogolin/Lange 2011). Es bezeichnet das Ziel der Permanenz und Nachhaltigkeit der Sprachförderung durch fächerübergreifende (horizontale) und schulstufenübergreifende (vertikale) Kooperationen. Vor allem für die nichtsprachlichen Fächer kommt die Forderung nach einem „content and language integrated learning“ (CLIL) hinzu. (Helmuth Feilke in Praxis Deutsch 233/2012)
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Das Grüppchen, das mit dem Habermasschen Begriff "Bildungssprache" und einem Verschnitt von Koch/Oesterreicher (Konzeptionelle Schriftlichkeit usw.) und Agel (Sprache der Distanz usw.) durch die Lande zieht, hat nicht viel zu bieten. Beispiel:

„Morgen machen wir einen Ausflug.“ Bildungssprachlich müsste es heißen: „Morgen werden wir einen Ausflug machen.“ (Ingrid Gogolin)

Das ist natürlich Unsinn. Bildungssprache in diesem Sinn ist am Lateinischen und anderen Fremdsprachen ausgerichtet, auf deutsch wird seit je auch in den besten Standardtexten das Praesens pro futuro verwendet. Und dieses steife hyperkorrekte Deutsch soll nun Ausländerkindern vermittelt werden!

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Aus demselben Interview:

Gogolin: Alltagssprache ist „Sprache der Nähe“, wie wir es nennen. Sie folgt den Regeln des Mündlichen, hat die Möglichkeit, Wörter mit Gesten und Mimik zu ergänzen. Etwa: „Tu mal das da hier rein.“ Bildungssprachlich muss man sich präziser ausdrücken. In dem Fall: „Fülle die Flüssigkeit bitte in den Kolben.“

In Labors wird durchaus elliptisch und deiktisch gesprochen, das hat mit dem vermeintlichen Niveau einer Sprache, "womit man sich in der Schule Wissen aneignen kann" (Gogolin nach Habermas), gar nichts zu tun. C. F. von Weizsäcker hat es ausdrücklich bestätigt. „Fülle die Flüssigkeit bitte in den Kolben" wäre unter gewissen Umständen vollkommen unnatürlich – wie jene Mahnung in der Grundschule, immer in "ganzen Sätzen" zu antworten.

Von falschen Maßstäben ging schon die frühe Erforschung des Gastarbeiterdeutschs aus, aber darüber sollte man nach 40 Jahren doch hinaus sein. (Damals galt "Meine Kleine muß zur Schule" als defektiv, weil das Verb fehlt!)
 
 

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