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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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11.01.2013
 

Sehen und Sprechen
Bemerkung über Aufmerksamkeit und Sprache

Die bekannte Zeichnung von Ernst Mach ist irreführend, weil sie alle Teile des Gesichtsfeldes gleich scharf darstellt.
Sie entspricht der gewöhnlichen perspektivischen Malerei, nicht der wirklichen Wahrnehmung. Das dürfte den Psychologen bekannt sein. (Mach selbst behandelt die Unzulänglichkeit einer zweidimensionalen Wiedergabe statt der stereoskopischen.)
Was wir peripher sehen, ist auf eine ganz andere Art undeutlich als eine Abbildung, über die man etwa eine Folie oder Milchglasscheibe gelegt hat. Wir können das, was wir auch nur wenige Grad von der Mitte (der Entsprechung des gelben Flecks) sehen, nicht einmal beschreiben. Denn sobald wir das versuchen, greifen wir auf unser Wissen zurück. Ich sehe z. B. gerade am Rande meines Gesichtsfeldes eine weiße Untertasse, eine Spindel mit DVD-Rohlingen, den Drucker usw., aber nur, weil ich weiß, daß es sich um diese Dinge handelt. Dann ist da noch ein undefinierbares dunkles Gebilde, nicht weiter entfernt als die Spindel. Ich kann es nicht erkennen, blicke foveal hin und erkenne das Headset meiner Frau. Ein paar schwarze Punkte auf weißem Papier ein paar Grad außerhalb des Zentrums können wir nicht zählen; die Anordnung als Gestalt etwa wie die Augen eines Würfels erleichtert die Erkennung, aber nur ein bißchen.

Diese unauflösliche Verbindung von Sprechen und fovealer Wahrnehmung ist sehr interessant. Sie wirft ein Licht auf die Funktion der Sprache.



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Kommentare zu »Sehen und Sprechen«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.02.2024 um 06.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#52762

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#37649

Zu dieser Frage habe ich inzwischen auch Augenärzte interviewt: Sie konnten aber auch nicht sagen, warum man am Rand des Gesichtsfeldes scharf abgebildete Punkte zu sehen meint.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 31.01.2024 um 05.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#52698

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#37673

Auch Wilhelm Dilthey hat das eigenartige Erlebnis schon beschrieben:

„Ich taste mit der Sonde. Hierbei habe ich das Bewußtsein meiner Impulse, zugleich verlege ich aber an die Spitze der Sonde eine Widerstandserfahrung, da mir die Sonde als ein fühlsames Tastorgan, als eine Art von Fortsetzung der tastenden Hand erscheint.“ („Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt“, Vortrag 1890)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.07.2023 um 04.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#51502

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#37673 usw.

Die scheinbare Verlagerung der Empfindung in die "Prothese" (Stockspitze, Skalpell, Fahrradreifen usw.) erlebt man auf die einfachste Weise, wenn man statt mit der Fingerkuppe mit dem Fingernagel über eine Oberfläche fährt. Der Nagel hat keine Nerven, wo also wird die Rauhigkeit der Oberfläche empfunden? Genau dort, wo sie ist. Unser Verstand sagt uns, daß das unmöglich ist, aber eben: Die Illusion täuscht uns die Welt so vor, wie sie wirklich ist. Es ist alles darauf angelegt, daß wir richtig reagieren. Darum spüren wir den schlechten Geschmack verdorbener Speisen im Mund und nicht in der Nase: Ausspucken und nicht Schneuzen ist die zweckmäßige Reaktion.

Diese Einsicht ist verallgemeinerbar.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.07.2023 um 18.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#51430

Der "Empfindung in der Stockspitze" läßt sich eine ähnliche Illusion zur Seite stellen. Blinde glauben Hindernisse „im Gesicht“ zu spüren (facial vision, obstacle sense); in Wirklichkeit werten sie mit dem Gehör das Echo ihrer eigenen Geräusche aus.
 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 24.04.2023 um 07.01 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#50946

Eigentlich müßte man von zwei Nähten sprechen, denn die Gesichtsfelder überlappen sich. Und wenn man sich darauf konzentriert, kann man auch doppelt sehen (wenn man mit dem Finger etwas anpeilt zum Beispiel).

Ich habe mir mal antrainiert, unabhängig von der Fokussierung die Konvergenz, d.h. die Ausrichtung der Augen zu verändern (Stichwörter: "Parallelblick" und "Kreuzblick"). Normalerweise stellt nan auf die Nähe scharf, wenn man die Augen Richtung Nase stellt. Oder auf Unendlich, wenn die Augen parallel ausgerichtet sind. Man kann das aber bis zu einem gewissen Grad unabhängig voneinander steuern. Das passiert sogar unwillkürlich, wenn man sich Muster ansieht, die sich in der Horizontalen "verschieben" und überdecken lassen, etwa senkrechte Gitterstangen. Stereogramme beruhen auf dem Effekt (https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Magische_Auge).

Das war jetzt sehr weit ausgeholt. Ich will eigentlich nur folgendes sagen: Wenn ich mir entsprechende Bilder ansehe (z.B. sowas: https://www.fotocommunity.de/photo/amaryllis-3d-kreuzblick-engelbert-mecke/319384), dann sehe ich, wie sich die beiden Bilder aufeinander zu bewegen und verschmelzen (es fühlt sich an wie ein Einrasten). Ich spiele in gewisser Weise mit meinen beiden Blickfeldern, lasse sie wandern (das klingt jetzt leichter als es ist.)

Ich sehe natürlich keine Nähte. Aber eben auch kein "geschlossenes Bild", zumindest für einen Augenblick. Eher zwei Bilder übereinander, ähnlich einer Doppelbelichtung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.04.2023 um 05.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#50945

Ich komme einfach nicht von meinem alten Thema los:

Wir wissen nicht, wie es physiologisch vor sich gehen könnte, daß von der senkrechten Naht auch nicht die geringste Spur wahrgenommen wird. Man muß annehmen, daß die vollkommene Integration der beiden Gesichtsfeldhälften in Wirklichkeit nirgendwo stattfindet. Es kommt ja nur darauf an, daß ich diesen Eindruck habe, der der erste Schritt einer Reaktion darauf ist. Dazu ist es nicht nötig, daß irgendwo dieses geschlossene Bild existiert, sozusagen als Ergebnis einer „Bildbearbeitung“. Von dieser Scheinplausibilität müssen wir uns befreien. Ich reagiere auf das Gesehene, als ob es nahtlos wäre (was es ja auch ist, wie es aber infolge des anatomischen Baus der Organe eigentlich nicht wahrgenommen werden dürfte). Was es aber heißt, einen Eindruck zu haben, ist nicht klar.
Je genauer wir die visuelle Wahrnehmung erforschen, desto deutlicher wird, daß sie unermeßlich verschieden von unseren optischen Geräten (einschl. Bildbearbeitung) funktioniert. Warum z. B. gehen die Sehnerven zum Thalamus? Was treiben sie dort? Usw.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.02.2023 um 05.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#50513

Es ist scheinbar logisch zwingend, daß unser Sehapparat aus der zweidimensionalen Abbildung eine dreidimensionale Welt erschließen muß. In Wirklichkeit ist das Sehen einer Fläche nicht ursprünglicher als das Sehen von Tiefe, erstens wegen der Akkomodation (die Ernst Mach in seiner berühmten Zeichnung ebensowenig berücksichtigt wie die schnell abnehmende extrafoveale Schärfe einschließlich des Blinden Flecks), zweitens wegen der Lerngeschichte: „Man kann aus dem Bestand unserer Sehwelt (...) die Reste und Spuren früherer Eigentätigkeit überhaupt nicht fortdenken. ... Handlungseinschüsse im Aufbau der menschlichen Wahrnehmung.“ (Arnold Gehlen: Der Mensch 1958:188)
Sehen wird gelernt, und zwar in allen drei Dimensionen. Erst für den Maler wird die Tiefe ein Darstellungsproblem, aber seine zweidimensionale Leinwand hat nichts mit der zweidimensionalen Netzhaut zu tun. Wir betrachten das gemalte Bild, aber wir betrachten nicht die Netzhaut.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.01.2023 um 06.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#50337

Ich kann durch sprachliche Anweisung dazu gebracht werden und mich dann auch selbst dazu bringen, das Wahrnehmungsfeld umzustrukturieren. Ein bestimmte Anordnung von Punkten kann ich als vier Dreiergruppen, sechs Paare oder noch anders sehen, einen Davidsstern als zwei ineinandergeschobene Dreiecke usw. Fälle wie der hier schon mehrmals erwähnte Necker-Würfel zeigen sogar, daß es schwer oder unmöglich sein kann, eine bestimmte Sicht festzuhalten, und der Organismus sich gleichsam selbst auf die Suche nach anderen Gliederungen macht. Vielleicht handelt es sich, wie Wolfgang Köhler vermutete, um einen Ermüdungs- oder Sättigungseffekt (Habituierung).
Dazu noch eine Spekulation: Manche Menschen halten an einer Idee ihr Leben lang fest (daher "fixe Idee"), während andere das gar nicht können, sondern sich nach einer Weile fragen, ob vielleicht das Gegenteil richtig ist. Ich zum Beispiel war als Gymnasiast und darüber hinaus ein fanatischer Anhänger der Psychoanalyse, bis ich zu der ebenso festen Überzeugung kam, daß sie Humbug ist (lange bevor ich die Enthüllungen über Freuds Betrügereien las). Ein bißchen muß ich auch über mich und meine "Geistesmechanik" (Doderer) lächeln. Ich werde wohl auch meine fixen Ideen haben, aber dafür bin ich naturgemäß blind. Alles zusammen nennt man Altersweisheit.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.01.2023 um 05.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#50318

Noch eine Beobachtung zum unerschöpflichen Thema:
„Der Mensch bewegt sein Augenlid durch den Lidschlagreflex zwischen 10 und 12 Mal pro Minute. Beim vom Willen gesteuerten Augenschluss kann der Mensch bestimmen, welches Auge geschlossen wird, wie lange und mit welchem Muskeltonus.“
Der Lidschlagreflex und die Linsenakkommodation erfolgen stets beidäugig, also auch wenn nur ein Auge gereizt oder von verändertem Lichteinfall betroffen ist. Den Lidschlag kann man in gewissem Umfang beherrschen und trainieren, die Akkommodation nicht. Hitchcock wies Judith Anderson an, nicht zu blinzeln, um die Mrs. Danvers in „Rebecca“ noch unheimlicher aussehen zu lassen. Ich wundere mich manchmal, wenn Reporter oder Interviewpartner minutenlang überhaupt nicht blinzeln. Es fällt auf, während man das natürliche Blinzeln praktisch gar nicht bemerkt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.01.2023 um 05.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#50317

In „Climbing Mount Improbable“ (und in Videos) zeigt Dawkins nicht nur die vielmalige Evolution von Augen, sondern im Anschluß an Michael F. Land (leider 2020 verstorben) und Dan-Eric Nilsson (die beide das Manuskript gelesen hatten), wie sehr das Sehen nicht Abbilden, sondern Berechnen ist, natürlich mit den Mitteln des Organismus, also durch Verschaltung der Nerven usw. Diese didaktisch ausgezeichnete Darstellung sollte man unbedingt lesen; wer das Buch nicht zur Hand hat, findet das Kapitel auch hier: http://pratclif.com/eye/evolution.htm

Ich finde, daß man danach um so weniger von "Repräsentationen" im Kopf sprechen kann (auch wenn Dawkins es nicht so gemeint haben sollte).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.01.2023 um 05.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#50179

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#41001

In den Notebooks trägt Skinner noch ein weiteres literarisches Beispiel nach (das ich aber nach Original zitiere, weil Skinner ein Fehler unterläuft):

I listened to the music, and, without thinking of the play or looking at the stage, I turned over your proposal. At first it seemed quite fantastic. And then a certain fiddle in the orchestra – I could distinguish it – began to say as it scraped away, ‘Why not, why not?’ And then, in that rapid movement, all the fiddles took it up and the conductor’s stick seemed to beat it in the air: ‘Why not, why not?’ (Henry James: The American)

Ich glaube, daß wir im Alltag noch viel öfter durch irgendwelche Geräusche zu sprachlichen und nichtsprachlichen Verhaltensweisen angestoßen werden. Skinner geht immer wieder der Frage nach: Wie bin ich jetzt darauf gekommen?
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 25.12.2022 um 21.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#50111

https://virchblog.wordpress.com/2022/07/25/kleine-mannlein-im-hirn/
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.12.2022 um 05.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#50106

Es gibt Fotografien, die zeigen sollen, wie etwa eine Fliege die Welt sieht. Man konstruiert dieses Bild aus der Kenntnis des Facettenauges, mit entsprechender Auflösung usw. Aber das ist irreführend. Schon wie der Mensch die Welt sieht, ist nicht so, wie man es sich vorstellt (d. h. unter gewissen Vorgaben konstruiert), vgl. die irreführende Zeichnung Machs vom Gesichtsfeld seines linken Auges. Ein Foto durch die Linse des Auges zeigt nur ein sehr verschwommenes Bild. Der Rest ist „Nachbearbeitung“ durch einen evolutionär angepaßten Überlebensapparat samt gelernten Reaktionen. (Unter anderem ist die unwillkürliche Akkomodation nicht abbildbar.) Und bei Tieren geht es nicht nur um die Unmöglichkeit, sich in eine so fremde Welt zu versetzen (Nagels Fledermaus), sondern um die Einsichten, die wir z. B. aus der klassischen Untersuchung an Froschaugen gewonnen haben (Lettvin/Maturana/McCulloch/Pitts (1959): „What the Frog’s Eye Tells the Frog’s Brain“): Das Auge steuert das Verhalten; dazu muß auf keiner Stufe der Verarbeitung ein Bild auf einer inneren Bühne oder Leinwand existieren, das ein innerer Betrachter scannen würde. Auch der PC enthält ja keine Bilder.
Wenn man naiverweise glaubt, irgendwo müsse das lückenlose Bild „repräsentiert“ sein, mit "ausgefülltem" blinden Fleck usw., und im Hirnscan nach der physiologischen Entsprechung sucht, ist man auf dem Holzweg – auch wenn man, wie zu erwarten, irgend etwas finden wird.
Das kann man auf weitere Untersuchungen dieser Art ausdehnen, auch auf die „Repräsentation“ von Sprache im Gehirn. Man jagt einem Phantom nach. Naive Forscher erklären dann, die Verarbeitung von Sprache im Gehirn sei aufgeklärt.
 
 

Kommentar von , verfaßt am 15.05.2022 um 06.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#49106


 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.03.2022 um 17.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#48814

Als junger Mensch erblickte ich einmal auf der Straße ein mir höchst unangenehmes widerwärtiges Gesicht im Profil. Ich erschrak nicht wenig, als ich erkannte, dass es mein eigenes sei, welches ich an einer Spiegelniederlage vorbeigehend, durch zwei gegeneinander geneigte Spiegel wahrgenommen hatte. - Vor nicht langer Zeit stieg ich nach einer anstrengenden nächtlichen Eisenbahnfahrt sehr ermüdet in einen Omnibus, eben als von der anderen Seite auch ein Mann hereinkam. "Was steigt doch da für ein herabgekommener Schulmeister ein", dachte ich. Ich war es selbst, denn mir gegenüber hing ein großer Spiegel. (Ernst Mach)

Ich habe diese interessante Stelle hier eingerückt, weil sie aus demselben Text stammt, den ich im Haupteintrag besprochen habe.

Mach hat Wittgenstein, Einstein, Skinner und viele andere beeinflußt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.03.2022 um 04.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#48661

Wenn ich auf einen Punkt gerade vor mir starre und dabei meine Aufmerksamkeit auf den Rand des Gesichtsfeldes richte, glaube ich dort die Türklinke zu erkennen. Ich weiß aber aus Versuchen mit unbekannten Gegenständen, daß dieser Eindruck täuscht, daß ich also in meine vermeintliche Wahrnehmung etwas einbaue, was ich weiß. Oder um den problematischen Begriff des Wissens zu vermeiden: Das Sehen ist nicht nur ein Sinneseindruck, sondern durch Erfahrung (früheres Sehen plus anderes Verhalten) geprägt. Die Beschreibung fällt schwer; es handelt sich nicht um eine Undeutlichkeit wie bei unscharfem Sehen (Kurzsichtigkeit, bei mir auf dem linken Auge) oder wie hinter einer Milchglasscheibe oder im Nebel. Eigentlich dürfte ich gar nicht sagen, daß ich eine Türklinke sehe. Ein Maler, der abbilden muß, was er sieht und nicht was er weiß, käme in die Schwierigkeit, die von Machs bekannter Zeichnung ignoriert wird.
Bei einäugigem Sehen ahnt man – wenn man weiß, worauf es ankommt –, wo sich der blinde Fleck befindet. Das Gesichtsfeld hat keine Lücke, aber an der betreffenden Stelle sieht man noch weniger als drumherum, was da eigentlich ist.
Das Irritierende ist, daß man normalerweise glaubt, die „Phänomene“ allesamt „beschreiben“ zu können. Das stimmt offensichtlich nicht. Ich kann sie nicht einmal zeichnen, geschweige denn in Worte fassen. (Genau genommen kann man auch Träume nicht wirklich in Worte fsssen.)
Der Philosoph zweifelt, ob „Phänomen“ überhaupt ein sinnvoller Begriff ist. Wenn ich mir einen Scherz erlauben darf: σῴζειν τὰ φαινόμενα – daraus wird wohl nichts.
 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 15.02.2022 um 20.23 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#48551

Die Sache ist etwas verzwickt. Einerseits richten wir unsere Sinnesorgane auf die Welt (wenden das Ohr in eine bestimmte Richtung, um besser zu hören, ziehen Dämpfe einer Speise in die Nase), andererseits haben wir die Vorstellung einer unabhängig von unseren Sinnen existierenden Welt.
 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 15.02.2022 um 19.59 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#48550

Ich würde sagen, daß wir irgendwie eine Empfindung für die uns umgebende Welt haben – zum Beispiel als kalt, hart, rauh, salzig usw. Aber sicherlich fühlen wir auch unsere eigene Reaktion (z.B. Gänsehaut). Ich hätte Vorbehalte, ein Werkzeug wie einen Stock klar einer der beiden "Sphären" zuzuordnen, aber das ist vielleicht auch gar nicht nötig. Wenn ich mich entscheiden müßte, dann der äußeren Welt.

Das mit den Gesichtshälften ist interessant. (Ich wünsche Ihnen natürlich, daß es sich nicht wiederholt.) Eigentlich betrifft diese neurologische Spaltung in zwei Hälften den ganzen Körper, und es gibt wohl auch sonst halbseitige Ausfälle. (Beim besten Stück weiß ich es nicht so genau.)

Kürzlich bin ich beim Lesen wieder auf dieses siamesische Zwillingspaar gestoßen, Abigail und Brittany. Die haben irgendwie Laufen gelernt und können auch sonst anstehende Bewegungen des jeweiligen "Partners" vorwegnehmen. Es wäre interessant, wie sie die neurologische Trennung wahrnehmen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.02.2022 um 19.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#48549

Ich weiß nicht, wie man entscheiden soll, "wo" die Empfindung ist. Wir sind auf solche Fragen gewissermaßen nicht vorbereitet. Wir fühlen die Rauhigkeit einer Oberfläche, aber das ist das Objekt der Empfindung, nicht ihr Ort. Man sagt zwar, die Speise schmecke so oder so, aber gerade die Sprache hat doch immer den Mund, die Zunge, den Gaumen als Ort der Geschmacksempfindung gefaßt (nicht die Nase, wie es "richtig" wäre). Aber wie gesagt, die Alltagssprache und Alltagspsychologie kann dazu nicht viel sagen, wie denn auch "Empfindung" usw. eher neue Wörter sind.

Wie ich mit einer eigenen Aphasieerfahrung aufwarten kann, so auch mit einer kurzen Sehstörung vor längerer Zeit. Offenbar aufgrund einer vorübergehenden Blockierung einer kleinen Ader im Gehirn war eine Gesichtsfeldhälfte für einige Minuten ausgefallen. Man kann das naturgemäß schwer beschreiben, aber ich konnte wirklich erleben, daß das Gesichtsfeld besagte "Naht" hat, allerdings nicht als Linie oder so, sondern ich habe auf der einen Seite buchstäblich gar nichts gesehen, ganz eigenartig. Und auch schreckhaft, weil ich erst an einen Schlaganfall dachte (was es ja in Wirklichkeit auch ist, nur im Miniformat).
Wir kennen die "Projektion" der Sehnerven ins Gehirn und WISSEN, daß es die beiden voneinander getrennten Hälften gibt, aber wir nehmen unter normalen Umständen absolut nichts davon wahr, die Integration ist perfekt.
(Das alles hat nichts mit Beidäugigkeit, Konvergenz usw. zu tun, aber das hat sich wohl inzwischen aufgeklärt.)
 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 15.02.2022 um 18.45 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#48547

Bei den Gesichtshälften hatte ich es erst auch so verstanden wie Herr Riemer (#42176). Insofern hat es sich geklärt.

Soll man es eine Sinnestäuschung nennen, wenn man den Geschmack im Mund und die Tastempfindung in der Stockspitze zu erleben glaubt? (#47387)

Ich würde sagen, die Empfindung liegt nicht in der Stockspitze, sondern wir empfinden die Struktur der mit dem Stock berührten Oberfläche. Notfalls auch ohne Stock (so wie man auch ohne Augenlicht etwas sehen bzw. halluzinieren kann). Wir empfinden den Geschmack nicht im Mund, sondern in der Speise.

Zu Halluzination und "Datenkompression" der Sinneswahrnehmung schreibt auch Daniel Dennett in Consciousness Explained, wenn ich mich recht erinnere, ganz am Anfang. (Im-Sand-Liegen war glaube ich sein Beispiel.) Ich hab mich nicht so intensiv damit beschäftigt, aber in der Diskussion hier kommt es mir wieder in den Sinn.

Ich hatte schon erwähnt, daß es ohne sprachliche Instruktion nicht möglich sein dürfte, auf "alles Rote" zu achten. (#40946)

Daran schließt sich eigentlich die interessante Frage an, was zuerst da war, Sprache oder die besondere Autonomie der Aufmerksamkeitssteuerung.

Wie Pädagogen wissen, hilft das Umstrukturieren beim Problemlösen, aber dieses weite Feld will ich im Augenblick nicht betreten. (#40965)

Dennett hatte den menschentypischen Humor mal in diesem Sinn gedeutet:
https://youtube.com/watch?v=GOHjsv1GSc4
(Ich weiß nicht, ob die Folgen noch vollständig online sind.)
 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 15.02.2022 um 14.45 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#48546

"Das Bild einer gesteuerten Halluzination hat mir gut gefallen." – Das ist wohl etwas mißverständlich. Ich bezog mich auf diesen Satz in der Kommentardiskussion:

Sehen ist ungefähr dasselbe wie eine Halluzination, nur mit dem zusätzlichen steuernden Reiz, den das Auge vermittelt.
 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 15.02.2022 um 14.35 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#48545

Ich habe ein bißchen im Thread gelesen, bin aber nicht ganz durch. Vielleicht ist also das, was ich schreibe, also redundant.

Zwei Anmerkungen.

1.

Das mit den Gesichtshälften und der "Naht" dazwischen habe ich nicht ganz verstanden. Ich stelle es mir - um beim Bild der Naht zu bleiben - so vor: Man hat zwei Stücke Stoff und legt sie teilweise übereinander. Wenn ich sie nun zusammennähe, bieten sich zwei Nähte an, da sie sich ja überlappen. Ebenso wenn die Stücke einfach übereinander liegen, sich also vollständig überlappen. Eine Naht durch die Mitte macht wenig Sinn. Trennen wir die Nähte, um zum Sehen zurückzukommen. Für das foveale Sehen werden nun die Mittelpunkte der Sehfelder (unsere Stoffstücke) zur Deckung gebracht, egal ob ich in den Himmel oder auf die Nasenspitze schaue. Das geschieht durch die Konvergenz der Augen (Drehen der Augen nach innen - für das Betrachten der Nasenspitze muß man quasi schielen.)

Es gibt also keine mittige Naht. Die Sehfelder sind vollständig in Deckung. Die Arbeit des Gehirns besteht darin, abweichendende Bildinformationen zu verschmelzen oder auszublenden, insbesondere diejenigen außerhalb des fovealen Bereichs beim Blick auf Dinge im Nahbereich. In Bild von Ernst Mach wäre es zum Beispiel die Nase, die je nach Auge rechts oder links ins Sehfeld ragt.

Eine gewisse Unstimmigkeit der Wahrnehmung kann sich durchaus ergeben. Z.B. Doppelsehen: Han halte zwei aufrechte Zeigefinger in unterschiedlicher Distanz zum Auge. Je nachdem, auf welchen Finger man schaut, sieht man den anderen doppelt.

Es kann auch passieren, wenn man auf feine regelmäßige Muster schaut, daß die Konvergenz falsch einrastet. Das führt dann zu einer falschen Tiefenwahrnehmung (ähnlich sogenannte Zufallspunkt-Raumbilder, mir selbst ist der Effekt zum ersten Mal beim Betrachten einer Heizungsverschalung aufgefallen).

Die Konvergenz ist (mit Übung) übrigens bewußt steuerbar, etwa durch Fokussieren/Akkomodieren auf Nähe bei gleichzeitiger Konvergenz auf Ferne oder anders herum. Das kann man sich zum Beispiel beim Betrachten stereoskopischer Bilder oder 10-Fehler-Suchbilder zunutze machen.

Wegen meiner Kurzsichtigkeit verzichte ich auch auf eine Lesebrille (die wegen der Alterssichtigkeit inzwischen notwendig wäre). Ich schließe dabei ein Auge, um die oben genannte Unstimmigkeit in der Wahrnehmung zu vermeiden. Aber man kann sich auch angewöhnen, beide Augen offen zu lassen und nur mit dem einen zu Lesen. Meine Mutter hatte eine Operation an der Linse und hat nun ein Auge für die Ferne und eins für die Nähe. Sie meint, sie kommt damit gut zurecht, auch ohne Dioptrienausgleich durch Sehhilfe.

2.

Wir können unser "Tastgefühl" auf Stockspitzen projizieren, verschmelzen mit Fahrrad und Auto zu einer Einheit. Wir haben wohl auch unser räumliches Sehen - vielleicht auch eine Projektion dieser Art? - durch Kindheitserfahrungen gelernt (Laufen, Abtasten, Anstoßen, Pulen, Hintergreifen usw.).

Das Bild einer gesteuerten Halluzination hat mir gut gefallen.

Mir fällt dazu etwas Interessantes ein, und ich weiß nicht, ob es nur mir so geht oder auch anderen. Vor einigen Jahren interessierte ich mich sehr für die wieder aufkommenden 3D-Kinofilme. Als Jugendlicher habe ich schon gern stereoskopische Fotos gemacht. Mir geht es nämlich so: Wenn ich dreidimensionale Bilder sehe, fühle ich sie regelrecht. Wenn ich im 3D-Kino oder auf stereoskopischen Bildern Wasser sehe, fühlt es sich viel nasser an als auf normalen Abbildungen. Pelz fühlt sich flauschiger an. Oberflächen allgemein sind werden plötzlich präsent und "echt", quasi fühlbar. Mich reizt gar nicht so sehr der Tiefeneindruck oder die Räumlichkeit, sondern die Textur von Oberflächen. Gute Auflösung ist dabei aber wichtig, deshalb unbedingt modernes 3D-Kino.

Ich weiß, daß viele mit dem 3D-Schnickschnack nicht viel anfangen können, aber für mich war es durchaus eine Offenbarung. Leider gibt es auch einige Artefakte (manche Flächen sehen irgendwie komisch aus, es gibt Verkleinerungseffekte, auch läßt sich eine natürliche Akkomodation mit selbstbestimmter Schärfenebene nicht realisieren).

Für Dokumentationen von Kunstwerken, seltenen Landschaften usw. wäre 3D-Technik meines Erachtens ideal. Vor allem wegen der Oberflächen. Man denke an die unzureichende Darstellung von Blattgold z.B. auf christlichen Ikonen in Kunstbänden. Da hatte man früher manchmal so eine "Metallic"-Farbe. Das Problem ist hier, daß spiegelnde Flächen ein virtuelles Abbild hinter der Oberfläche erzeugen, eben wie ein Spiegel. Das gilt für alles, was glänzt, nicht nur metallische Oberflächen, auch der Glanz eines Tisches oder der eines Pelzes, der noch aus anderen Gründen eine Tiefenwirkung hat. Man braucht für eine realistische Abbildung 3D-Technik.

Um zurück zum Thema zu kommen: Fühlen wir nicht auch ohne Tastsinn die Gegenstände unserer Umgebung? Einfach durchs Ansehen, so in Gedanken?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.02.2022 um 06.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#48541

Bei einer Aufzählung wie Affen, Hunden oder Papageien (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1401#45464) wirft die eindeutige Form Hunden plötzlich ein Licht auf die mehrdeutigen vorangehenden und folgenden, so daß auch diese als Dative gehört oder gelesen werden. Es ist wie die Fixierung einer Kippfigur durch ein zusätzliches Merkmal, das ein weiteres „Kippen“ ein für allemal verhindert. Ähnliches geschieht ständig, auch ohne daß wir die alternativen „Lesarten“ überhaupt bemerken.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.10.2021 um 09.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#47387

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#45869 usw.

Soll man es eine Sinnestäuschung nennen, wenn man den Geschmack im Mund und die Tastempfindung in der Stockspitze zu erleben glaubt?

Beides ist dort, wo es hingehört: Im Mund steuert es unsere Nahrungsaufnahme, in der Stockspitze unsere Interaktion mit dem getasteten Gegenstand usw.

Es wäre kontraproduktiv, die Nase mit wohlschmeckenden (= wohlriechenden) Speisen vollzustopfen, und Finger, Hand und Arm haben ja nun tatsächlich keine Berührung mit dem Gegenstand: zu steuern ist die Stockspitze.

Ähnlich ist die Größenkonstanz eine nützliche Illusion, die allerdings bei der Mondillusion tatsächlich zu einer Täuschung führt und sich dadurch erst verrät.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.10.2021 um 09.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#47241

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#41001

Der Schienenstoß schafft in älteren Tonfilmen eine realistische Geräuschkulisse für Eisenbahnfahrten.
Vgl. Hitchcocks "The Lady Vanishes" von 1938 (https://www.youtube.com/watch?v=_mPAHtvr87o); die Unterlegung der Studioaufnahmen mit Fahrgeräuschen ist allerdings nicht konsequent durchgehalten. Das hätte auch die Verständlichkeit zu sehr beeinträchtigt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.07.2021 um 06.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#46486

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#38317

"Ich sehe es (genau) vor mir" – wo denn sonst? – enthält jenen Pleonasmus, der auch sonst zur Bekräftigung benutzt wird; "etwas mit eigenen Augen sehen" usw. – mit wessen Augen denn sonst?

Im ersten Beispiel liegt außerdem die gleiche Übertreibung vor wie "bestimmt, gewiß" gerade in unsicheren Aussagen. Man sieht es ja gerade nicht vor sich, schon gar nicht genau.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.05.2021 um 05.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#45895

Ich gehöre zu den vielen Menschen, denen beim Gehen bessere Formulierungen einfallen, und ich versuche sie mir zu merken oder schreibe sie auf, wenn ich Papier und Stift dabeihabe. Anderswo habe ich schon auf die anregende Wirkung von weißem Rauschen (Trockenhaubenphänomen, Meeresbrandung) hingewiesen, andererseits von regelmäßigen Geräuschen wie Ticken und Stampfen, etwa dem Schienenstoß der älteren Eisenbahn – wozu es auch literarische Belege gibt. Man kann annehmen, daß Getreidestampfen und ähnliche Rhythmen nicht nur Arbeitslieder angeregt haben, sondern auch "Gedichte", die dann auch ihrerseits wieder der Koordination der Bewegung dienten. So auch das Baumwollpflücken in den Südstaaten und die Zuckerrohrernte. Weniger mühsam das gleichmäßige Schreiten des Wanderers, dem denn auch bei Eichendorff sogleich ein Lied auf die Lippen kommt.

Das Formulieren ist nicht vom sog. Denken zu trennen. Mir fallen bei meinen morgendlichen Wanderungen die besten Formulierungen in der ersten halben Stunde ein, später macht sich eine leichte Ermüdung bemerkbar, da kommt dann nichts mehr; das kennt man ja auch vom Wandern am Strand: ein durchaus nicht unangenehmes, erholsames Dösen.
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 08.05.2021 um 10.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#45872

Da der Ruhepuls Erwachsener zwischen 60 und 80 Schlägen pro Minute liegt, müßten schnelle Songs dann ein Tempo von 120 bis 160 beats per minute (bpm) haben. Ganz so klar ist das Bild aber nicht. Der größte Ausschlag findet sich wohl bei 112 bpm. Ob er die "heißesten" Stücke repräsentiert, ist allerdings fraglich. Für Punks war das ein lahmes Tempo.

http://www.tonaltrends.com/bmps-most-graph/4582002474
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.05.2021 um 06.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#45871

Noch zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#41001 (obwohl es nicht zum "Sehen" gehört):

Unseren eigenen Herzschlag nehmen wir normalerweise nicht wahr, aber mit einiger Übung wohl doch. Ich habe irgendwo gelesen, daß "heiße" Musik gern mit der doppelten Herzfrequenz arbeitet.
Der Fötus muß den Herzschlag der Mutter wie eine Pauke hören; das dürfte prägend wirken. Rhythm is it!

Als meine Frau mit unserem ersten Kind schwanger war, ließ sie einmal unbedacht die Küchenmaschine dicht vor ihrem Bauch Getreide mahlen. Die Leibesfrucht zuckte merklich zusammen. (Entschuldigung, liebes Kind!)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.05.2021 um 04.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#45869

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#37673

Eine andere Alltagsillusion:

Wir glauben den Geschmack einer Speise im Mund zu spüren („Gaumenfreuden“), nicht in der Nase, wie es richtig wäre (abgesehen von den wenigen Elementarempfindungen der Zunge).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.04.2021 um 05.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#45799

Der Blick aus dem Fenster zeigt mir ein „Bild“ mit aller wünschenswerten Deutlichkeit, das Nachbarhaus, die Bäume... Die Untersuchung des menschlichen Auges läßt eine solche Auflösung nicht erwarten. Die Sammellinse ist ein nicht besonders klarer Gallertkörper, das Licht durchquert die Nerven und Blutgefäße, bevor es auf die Sehzellen an der Rückseite (!) der Netzhaut trifft usw. An keiner Stelle im Organismus gibt es ein Bild, das einer Fotografie entspräche. Es ist organisch unmöglich. Mein Seheindruck ist ein Ergebnis angeborener und erworbener Vernetzung und Verschaltung zwischen Nervenzellen.
Im wesentlichen der gleiche Eindruck kann als Halluzination erzeugt werden, also ohne Steuerung durch den äußeren Reiz, ohne Einwirkung des Strahlengangs auf die Netzhaut. Das legt den Gedanken nahe, das diese Steuerung im Normalfall des Sehens etwas Hinzukommendes ist, daß aber der Eindruck eines scharfen Bildes vom Organismus selbst konstruiert wird. Sehen ist nicht das Empfangen von Bildern, sondern das Erzeugen des Eindrucks von Bildern (nicht von Bildern selbst; die gibt es nirgendwo). Man kann das auf das Hören und andere Wahrnehmungen ausdehnen. Es gibt ja auch Gehörshalluzinationen und andere Phantomwahrnehmungen.
Um so plausibler Skinners Ansatz: Wahrnehmen ist Verhalten.
(Halluzinationen sind aufschlußreicher als Träume, weil das Geträumte immer nur nachträglich protokolliert werden kann, so daß man nie sicher sein kann, was wirklich erlebt und was nur nachträglich konstruiert worden ist. Der Halluzinierende dagegen ist ansprechbar, seine Eindrücke können sozusagen online protokolliert und untersucht werden.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.01.2021 um 09.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#44999

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#40965

Auch wissenschaftliche Forschung ist Anpassung an die Umwelt. Das ist die pragmatistische Auffassung. Nur daß die Reaktion nicht unmittelbar ein Hantieren und Manipulieren sein muß, sondern zunächst in sprachlicher Erfassung bestehen kann, einer sozialen Angelegenheit also, wie die Sprache überhaupt. Daher Bolzano: Wissenschaft als die Kunst, Lehrbücher zu schreiben. Aus der Beschreibung kann man dann verschiedene andere Verhaltensweisen ableiten. Beispiel: Sequenzierung von Viren-RNA usw.; darauf folgt dann die Entwicklung eines Impfstoffs.

Man könnte ein Tier so dressieren, daß es auf alles Rote in bestimmter Weise reagiert, auch wenn die rote Farbe kein vitales Interesse des Tiers berührt. Wir Menschen dressieren einander so, daß wir für alles Rote die sprachliche Reaktion rot bereithalten. Auch diese Reaktion ist maximal detachiert von allem vitalen Interesse, sie ist in der Tat „abstrakt“. Aus ihr lassen sich aber die verschiedensten praktischen Reaktionen ableiten.
Die sprachliche Reaktion wird als „Wissen“ aufgefaßt. Von Wissen sprechen wir im eigentlichen Sinn überhaupt nur, wo die Anpassung durch die Sprache vermittelt ist:
Und nicht wahr, was wir wissen, davon können wir doch auch aussprechen, was es ist? (Platon: Laches)
Faktisch können wir es oft nicht, aber wir sollten es können, meint Platon. Ein Wissen, von dem wir nicht „Rechenschaft geben“ können, ist keins, sondern allenfalls ein Ahnen. Wo Es war, soll Ich sein.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.11.2020 um 10.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#44618

Auch zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1611#44410 (letzter Absatz)

Ist es günstiger, die Blickrichtung zu verdeutlichen oder sie zu verbergen? Für beides lassen sich Gründe anführen, so daß die evolutionäre Erklärung von Zusatzsignalen (weiße Augäpfel oder Gehörne usw., beim Menschen Hüte, nach Zahavi) bzw. Verheimlichungstechniken so oder so plausibel wäre. Bei sprachfähigen Wesen würden wir es vielleicht spontan für zweckmäßig halten, daß der Partner die Blickrichtung des Sprechers erkennen kann (wg. Deixis). Andererseits sollten Dritte besser nichts dergleichen wahrnehmen... Man sieht, wie schwer es ist, hier etwas Bestimmtes zu sagen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 31.07.2020 um 05.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#44008

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#37673

Eine gewisse Verlagerung der Empfindung erlebt man auch beim Radfahren: Die Unebenheiten der Fahrbahn werden gewissermaßen mit dem Reifen wahrgenommen. Aber wo empfinden wir "in Wirklichkeit"? Aufschlußreich ist, was viele Radfahrer kennen und auch im Internet diskutieren: Taubheitsgefühle in der ganzen Hinterpartie (Gesäß, Genitalien) bei falscher Haltung oder schlecht gewähltem und eingestelltem Sattel. Dann spürt man den Schotter immer noch, aber anders. Schwer auszudrücken. (Vorderrad und Lenker lasse ich mal beiseite.)

(Kleiner Tip für Leidensgenossen: Seit ich einen Sattel mit Längsschlitz benutze, kommt das nicht mehr vor.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.07.2020 um 13.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#43995

Bei manchen Vögeln ist die Fovea mit so vielen Sehzellen besetzt, daß sie unfaßbar scharf sehen, z. B. die Falken. Ich habe gelesen, daß die Falkner früher einen Neuntöter im Käfig mit sich führten, weil dieser mit seinen scharfen Augen immer sah, wo der Falke sich gerade befand, und den Kopf dorthin drehte, so daß es dann auch der Falkner wußte. Leider habe ich dafür keine Quelle gefunden (außer jenem Hinweis in einem populären Buch von Vitus B. Dröscher).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.07.2020 um 04.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#43935

Die angeblich gegebene Flachheit (Zweidimensionalität) der Sehwelt, aus der wir die Dreidimensionalität erst rekonstruieren, ist eine gedankliche Konstruktion unter dem Einfluß von Bildern. In Wirklichkeit liefert die Akkomodation (neben anderen Cues, s. u.) gleichursprünglich das Tiefensehen. Das wirkliche Sehen ist sehr verschieden vom Betrachten eines Bildes. Die Einzelheiten eines Bildes werden ohne Akkomodation fokussiert, weil sie alle gleich weit vom Auge entfernt sind, und eine gemalte (oder fotografisch erzeugte) Unschärfe am Rand ist etwas ganz anderes als die Unschärfe, Nichtfokussiertheit, Nichtbeschreibbarkeit des extrafovealen Gesichtsfeldes und besonders des Gesichtsfeldrandes.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.07.2020 um 18.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#43887

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#38016

Wie Schwitzgebel mit Recht vermutet, sind wir von Gemälden und Fotos beeinflußt, wenn wir glauben, "eigentlich" nähmen wir die Dinge flach wahr und konstruierten aus diesen primären Daten erst die dreidimensionale Welt. Ich verweise auf seinen Aufsatz.

Hier möchte ich noch nachtragen, daß auch die unbeholfene Kinderzeichnung damit zu tun hat. Und von vielen Malern ist ja bekannt, daß sie sich künstliche Vorrichtungen angefertigt haben, um die Dinge so zu sehen, wie sie auf die Leinwand gehören. Das scheinbar Primäre, Primitive ist gerade das Künstliche. Was hat die Phänomenologie nicht alles angestellt, um das vermeintlich Ursprüngliche ("schlicht Gegebene"!) sichtbar zu machen!
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.05.2020 um 16.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#43647

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#38407, besonders Ramachandran:

Eine Vorstellung ist nicht wie eine blasse Wahrnehmung, auch wenn wir das gewöhnlich so behaupten. Auf einen der Unterschiede hat Ryle (The concept of mind) aufmerksam gemacht. Wenn ich mir etwas vorstelle, bin ich nicht im unklaren darüber, worum es sich überhaupt handelt. Darum kann mich eine Musik, die ich mir vorstelle, auch nicht überraschen wie eine wirklich gehörte. Das Vorgestellte (also von mir Gemachte) kann keine unvorhergesehene Wendung nehmen. Bei Träumen und Halluzinationen ist es anders.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.03.2020 um 16.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#43168

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#40946 (unwillkürliche Aufmerksamkeit) und unserer Diskussion dazu:

Now, however lightly a man may glance through a book, yet if his own name, or even only one like it, should be printed on the page, his eyes will instantly be stopped by it; so too, if his name be mentioned by others in their speech, though it should be whispered never so low, his ears will catch it. (J. M. Falkner: Moonfleet Kap. XV)

Eine alltägliche Erfahrung, aber schön beschrieben, nicht wahr?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.09.2019 um 05.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#42178

Alles richtig. Bitte stören Sie sich nicht an der unzulänglichen Ausdrucksweise.
Es kommt mir bloß darauf an, daß wir den Eindruck eines völlig homogenen, lückenlosen Gesichtsfeldes haben, was von der Anatomie her nicht zu erwarten wäre. Und daß im Kopf nirgendwo eine Entsprechung (nach Art eines Fotos) existiert. Wir konstruieren die Illusion, weil sie zweckmäßig ist.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 29.09.2019 um 22.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#42177

Auch wenn jedes Auge für sich schon das Gesichtsfeld in eine rechte und linke Hälfte teilt, müßte es einen Überlappungsbereich in der Mitte geben, der von beiden Gehirnhälften bedient wird. Das Wort Spalte (oder Naht) irritiert mich.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 29.09.2019 um 21.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#42176

Ich habe Sie bisher mißverstanden. Sie beziehen sich vor allem auf die neurologischen Zusammenhänge, darauf, daß die Sinneseindrücke beider Augen in verschiedenen Hirnhälften verarbeitet werden. Aber trotzdem, die beiden Gesichtsfelder überlappen sich ja weitgehend. In jeder Hirnhälfte kommt fast das gesamte Gesichtsfeld beider Augen an. Das ist ja gerade das Prinzip des räumlichen Sehens. Auch beim Schlaganfall fällt kaum die gesamte (obere und/oder untere) Gesichtsfeldhälfte entlang einer exakten senkrechten Mittellinie aus, sondern es gibt unregelmäßige, fließende Übergänge und verbleibendes Sehvermögen in einem Streifen jenseits der Mitte.
Sollte man daher nicht anstatt von einer Spalte oder Naht lieber von einem Überlappungsbereich beider Gesichtsfelder sprechen?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.09.2019 um 19.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#42175

Naht ist besser als Spalt. Daß wir sie nicht wahrnehmen, ist gerade der Witz der Sache.
Bei bestimmten Schlaganfällen kommt es zu einem Ausfall einer Gesichtshälfte, daran merkt man, daß das Gesichtsfeld aus zwei Hälften zusammengesetzt und die zu erwartende Naht vom Gehirn weginterpretiert wird.

Der Verlauf der Nerven ist in jedem Physiologiebuch oder im Internet zu sehen (https://de.wikipedia.org/wiki/Sehbahn).

Den blinden Fleck nehmen wir normalerweise auch nicht wahr, man kann sich aber dazu trainieren, ihn wenigstens zu erahnen. Besagten Spalt aber nicht, das Sehfeld wird perfekt als lückenlos wahrgenommen (weil es ja auch objektiv so ist).
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 29.09.2019 um 10.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#42173

Ich kann mir unter dem Spalt nichts vorstellen. Er ist schon physiologisch nicht vorhanden. Würde das Gesamtbild aus einem linken und einem rechten Bild zusammengesetzt, dann wäre in der Mitte eine Art senkrechte "Naht", die evtl. nur vom Gehirn "herausgerechnet" würde. Aber so ist es ja nicht. Die beiden Bilder werden übereinander gelegt, wo sollte da ein Spalt auch nur theoretisch herkommen?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.09.2019 um 06.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#42172

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#37727

Unterschiedliche Nutzung der Information kann aber doch wohl nur höheren Orts stattfinden, denn an der anatomischen Gegebenheit der Projektion von der Netzhaut über das Chiasma opticum in die Sehrinde kann sich doch nichts ändern? Darum nehme ich an, daß der "Spalt" immer in der Mitte bleibt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.08.2019 um 15.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#41961

Im Deutschen Wörterbuch bin ich auf etwas Seltsames gestoßen:

"rauheit, f. (für rauhheit), zustand des rauhen; seltenere bildung für und neben rauigkeit (s. d.), auch mit edlerem klange: die rauheit der luft, des klimas, des winters" (...)

Das verlinkte Stichwort heißt aber "rauhigkeit", auch in der Druckfassung.
 
 

Kommentar von ppc, verfaßt am 12.08.2019 um 14.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#41960

Ich habe mal gelernt: „Rauheit”. Ist erstens schlanker und zweitens nicht zu „Raueit” verstümmelt worden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.08.2019 um 04.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#41956

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#37673

So auch beim Schreiben. Es ist mir ganz unmöglich, die Rauhigkeit des Papiers dort zu empfinden, wo die Nerven tatsächlich sitzen, sondern sie wird entweder in der Bleistiftspitze gespürt oder in einem unausdrückbaren Nirgendwo. Darüber wundern wir uns viel zu wenig.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.06.2019 um 07.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#41708

Wir bilden uns ein, daß unsere Augen wie eine Kamera arbeiten, unsere Ohren wie Mikrofone. Erst Halluzinationen legen uns nahe, daß wir die Wahrnehmungen machen, daß es jedenfalls auch ganz anders geht als durch „Abbildung“. Das hat keinerlei Entsprechung im technischen Modell, das eben vollkommen falsch ist. Der Halluzinierende berichtet über Phänomene, die ebenso detailliert und real sind wie bei wirklicher Wahrnehmung, und doch wissen wir, daß sie ganz und gar vom Organismus erzeugt und nicht empfangen sind – soweit überhaupt etwas Visuelles oder Akustisches vorliegt und nicht nur der vermeintliche „Bericht“.
Man könnte nun sagen: Wenn die Phänomene, die wir im Traum oder bei Halluzination zu sehen glauben, nicht von außen in uns hineinprojiziert sind, sind sie eben von innen gleichsam projiziert und werden dann von einem inneren Auge betrachtet. Aber abgesehen von den begrifflichen und physiologischen Problemen: Nicht einmal dies ist erforderlich, damit in uns die Überzeugung vom Sehen eines solchen Bildes entsteht und dann ein ganz aufrichtiger Bericht darüber. Dies alles kann autonom erzeugt werden, ohne daß an irgendeiner Stelle so etwas wie ein betrachtbares „Bild“ vorhanden wäre.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 08.03.2019 um 01.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#41008

Ist unwillkürliche Aufmerksamkeit stärker als willkürliche?

Die Frage ist mißverständlich. Man könnte meinen, daß behauptet wird, von zwei Reizen gewönne meist der, mit dem man nicht gerechnet hat, bzw. sogar ein viel schwächerer unverhoffter Reiz sei in der Lage, von einem willkürlich wahrgenommenen Reiz abzulenken. Dagegen hatte ich schon argumentiert. (So wäre es gar nicht möglich, um beim Beispiel von Elsenhans zu bleiben, zu beurteilen, ob die Stärke des Reizes einer plötzlichen Stille im Kaffeehaus kleiner oder größer ist als die Stärke des Reizes aus der Zeitungslektüre.)

Soweit geht Elsenhans jedoch gar nicht, sondern er behauptet a.a.O. nur, daß "die unwillkürlich erregte Aufmerksamkeit höheren Stärkegrad hat" (Hervorhebung von mir).
Das heißt, nur wenn ein Reiz sowieso schon unwillkürlich bemerkt wurde, würde er auf jeden Fall von der aktuellen willkürlichen Aufmerksamkeit ablenken.

Aber auch gegen diese Auffassung möchte ich etwas einwenden. Die unwillkürliche Aufmerksamkeit wird immer nur punktuell, also für den Augenblick erregt. Danach setzt sofort die Interpretation ein, die Person entscheidet, ob sie dem neuen Reiz weiterhin ihre nun willkürliche Aufmerksamkeit schenkt oder ob sie sich wieder dem alten Reiz zuwendet. Das heißt, aus der augenblicklich unwillkürlich erregten wird sofort eine willkürliche Aufmerksamkeit.

Daß die unwillkürlich erregte Aufmerksamkeit stärker war, ist also ein Trugschluß. Daß wir den Eindruck haben, die unwillkürlich erregte hätte die willkürliche kurz unterbrochen, liegt einfach in der Natur der Sache. Die unwillkürliche ist punktuell, die willkürliche besteht dagegen über längere Zeit. Natürlich unterbricht eine länger andauernde Handlung nicht eine gleichzeitige kurze, sondern höchstens umgekehrt. Das hat nichts mit Stärke zu tun.

Daraus, daß unwillkürlich überhaupt etwas gleichzeitig zur willkürlichen Aufmerksamkeit wahrgenommen und registriert wurde, kann man nicht folgern, daß die unwillkürliche Aufmerksamkeit irgendwie stärker war.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.03.2019 um 19.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#41001

Bei akustischen Reizen, sei es ein gleichmäßiges Ticken oder ein undefinierbares Rauschen, neigen wir dazu, eine Gliederung "hineinzuhören". Das Trockenhaubenphänomen, das Skinner mit seinem "Sprachsummator" nachzubilden versuchte (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1194#35709), ist ein Beispiel für Rauschen. Auch für das "Ticken" gibt er ein Beispiel:

In Tolstois „Krieg und Frieden“ „schien es Fürst André“ (der an der Reling einer Fähre steht) „als wiederholten die klatschenden Wellen Pierres Worte: ‚Es ist die Wahrheit. Glaube mir.‘“ (260) Und Arnold Bennett beschreibt in „Konstanze und Sophie“, wie ein junges Mädchen in einem Eisenbahnwaggon von zu Hause ausreißt: „Und dann der langsame, gleichmäßige Schlag der Schienen, im gleichen Rhythmus wie die Frage ohne Antwort, die ihre Brust bewegte: ‚Warum bist du hier? Warum bist du hier?‘“ (VB 259f.)

Den Schienenstoß kennen unsere Kinder gar nicht mehr, seit die Schienen nahtlos verschweißt werden. Er hat vielleicht auch Komponisten angeregt (ich meine nicht in der Art von Honeggers "Pacific 231").
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.03.2019 um 15.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#40965

Ich glaube nicht, daß der Vergleich die Probleme macht, die Sie da sehen, aber ich will nur kurz auf die psychologische Literatur verweisen und noch etwas anderes erwähnen, was wieder zu meinem eigentlichen Thema zurückführt. Ich hatte schon gesagt, daß etwa "auf alles Rote achten" nur möglich ist, nachdem mit Hilfe der Sprache die Kategorie "Rotes" gebildet worden ist.
In der gestaltpsychologischen Literatur ist breit erörtert worden, was man willkürliche Umstrukturierung nennen kann. Die drei Gürtelsterne des Orion fügen sich wohl für jeden Betrachter zu einer natürlichen Gruppe ("Gestalt") zusammen. Man kann aber Gestalten auch entschlossen "anders sehen". Ich kann eine gleichmäßige Reihe von Punkten willkürlich in Viergruppen gliedern. Ebenso kann ich einen Davidsstern als zwei Dreiecke oder noch anders sehen. – Das dürfte kaum ohne Sprache gehen (Fremd- oder Selbstinstruktion). Also ganz anders als etwa der Neckersche Würfel, der "von selbst" kippt, dann aber auch unwiderstehlich.
Wie Pädagogen wissen, hilft das Umstrukturieren beim Problemlösen, aber dieses weite Feld will ich im Augenblick nicht betreten.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer , verfaßt am 28.02.2019 um 21.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#40953

Ich möchte meinen letzten Satz korrigieren. Natürlich „erfordert“ ein leises Geräusch mehr Aufmerksamkeit als ein lautes. Aber die Frage war ja, ob die unwillkürliche Aufmerksamkeit (einer Person) stärker „ist“ als die willkürliche. Das läßt sich erstens gar nicht vergleichen (wie soll man es feststellen?) und zweitens gibt es jede Menge Beispiele, ich würde es sogar für den Normalfall halten, daß die willkürliche Aufmerksamkeit von unwillkürlichen Wahrnehmungen ablenkt. Trotzdem gibt es ganz erstaunliche unwillkürliche Wahrnehmungen, das streite ich nicht ab.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 28.02.2019 um 17.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#40952

Gut, ich höre die leise Stimme im Wald, unwillkürlich.

Und einen Pilz, auf den meine ganze willkürliche Aufmerksamkeit und Konzentration gerichtet ist, habe ich immer noch nicht gefunden. Dabei waren sogar welche da, trotz großer Aufmerksamkeit habe ich sie übersehen, meine Frau hat sie hinter mir entdeckt.

Ist das nun ein Beweis dafür, daß meine unwillkürliche Aufmerksamkeit irgendwie "stärker" war als meine willkürliche? Was genau soll dieses "stärker" oder "aufmerksamer" bedeuten?

Ich meine, man kann es allenfalls einigermaßen quantifizieren, wenn man 2 Personen exakt das gleiche tun läßt. Der erfolgreichere kann dann als der aufmerksamere betrachtet werden.

Aber ob ein leises Geräusch im Wald zu hören mehr Aufmerksamkeit erfordert als zu verstehen, was der Partner mir zuruft – woher und wie will man das wissen?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.02.2019 um 16.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#40951

Es gibt Methoden, die Aufmerksamkeit von einem Schmerz abzulenken, so daß man eine gewisse Erleichterung findet. Vielleicht kann man sogar operieren ohne Narkose, nur mit hypnoseähnlichem Ablenken vom Schmerz. (Akupunktur? Es gibt Berichte.)
Vor einiger Zeit habe ich mich gefragt, ob man auch von Lustempfindungen abgelenkt werden kann – ob also hier eine Symmetrie zum Schmerz besteht. Kann man einen Orgasmus haben, ohne ihn zu bemerken? Und was würde es bedeuten, wenn das nicht möglich wäre?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.02.2019 um 15.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#40949

Leise Stimmen im Wald bewirken eine Hinwendung, auch wenn andere Geräusche lauter sind. Oder man sagt zum Begleiter: Sei mal still, ich höre jemanden. Usw.
Man kann auch objektiv beobachten, was den Blick auf sich zieht.

Hierher gehört auch das Suchen, das man als Veränderung der Empfindlichkeitsschwelle top-down erklärt. Physiologisch wohl noch nicht ganz klar, aber Merkmalsdetektoren sind bekannt.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 27.02.2019 um 14.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#40947

Wie kann man aber die Stärke der Aufmerksamkeit messen und beurteilen, vor allem, wenn es um ganz unterschiedliche Dinge und um willkürlich oder unwillkürlich geht?

Ich finde am Flughafen in der Menge eine Person, die ich abholen will. Ich entdecke beim Spazierengehen rein zufällig einen seltenen Schmetterling. Bei welcher Gelegenheit war ich aufmerksamer?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.02.2019 um 08.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#40946

Die unwillkürliche Aufmerksamkeit ist stärker als die willkürliche. Ein Knall, menschliche Stimmen im Wald usw. sind unwiderstehliche Reize, vgl. etwa Theodor Elsenhans: Lehrbuch der Psychologie. 3., völlig veränderte Aufl. Tübingen 1939:443)
Ob es ohne die Sprache überhaupt möglich wäre, die Aufmerksamkeit "willkürlich" zu lenken? Willkürlichkeit gehört in den Zsammenhang des Handlungsschemas, das sprachlich strukturiert ist. Ich hatte schon erwähnt, daß es ohne sprachliche Instruktion nicht möglich sein dürfte, auf "alles Rote" zu achten. Es gibt außer dem Aussprechen von rot kein Verhalten, das auf alles Rote reagierte.
Durch die Sprache werden wir fähig, auch auf den Rand des Gesichtsfeldes zu achten – was der Körper ohne Reflexion auch tut, etwa durch Schreckreaktionen auf extrafoveal auftauchende Reize, worauf schon die Netzhaut nachweisbar besonders eingerichtet ist.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.01.2019 um 07.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#40629

Und wie soll denn diese unvergleichliche, gar nicht kamera-mäßige Struktur des Gesichtsfeldes mit ihren konstruktiven Anteilen, die sogar ohne Input funktioniert (Halluzination, Traum), auf die Sehrinde "abgebildet" oder "projiziert" sein? Darüber liest man normalerweise nichts.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.01.2019 um 06.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#40501

Schon die wirkliche Wahrnehmung ist nicht das, wofür sie gehalten wird. Es ist uns nicht möglich, den blinden Fleck zu sehen, auch wenn wir heute jedes Kind lernt, wie man ihn nachweisen kann. Wir können nicht ohne besondere Vorkehrungen wahrnehmen, wie schnell die Sehschärfe zum Rand hin abnimmt und daß wir das, was wir dort zu sehen glauben, in Wirklichkeit aus der Erfahrung konstruieren; wir sind uns auch der weitgehenden Farbenblindheit der Randbezirke nicht bewußt. Am erstaunlichsten ist, daß wir die senkrechte Naht im Gesichtsfeld jedes Auges nicht bemerken, außer bei Hemineglekt nach einem Schlaganfall.

(All das sollte uns gegenüber dem scheinbar naiven reinen Schauen, wie von der Phänomenologie postuliert, skeptisch machen.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.10.2018 um 04.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#39871

Die naive Auffassung, daß wir beim Sehen die Gegenstände gleichsam abtasten, ist bei Husserl und den anderen Phänomenologen im Ausdruck "Blickstrahl" verewigt. Zugrunde liegt die Erfahrung der willkürlich lenkbaren Aufmerksamkeit. Das ist naturalistisch zu rekonstruieren, vgl. Naturalisierung der Intentionalität.
In Wirklichkeit bedeutet "schau auf x" soviel wie "bring dein Verhalten unter die Steuerung von x". Es gibt keinen Blickstrahl wie beim Radar oder Echolot. Aber die Phänomenologen "biegen" den Blickstrahl sogar:

Der intentionale "Blickstrahl" des Phänomenologen zielt nicht mehr auf die als seiend aufgefaßten Gegenstände, sondern auf die Gegenstände im Wie ihres unthematischen Erscheinens und auf die Einbettung dieses Erscheinens ins Horizontbewußtsein. Der Blickstrahl ist so zurückgebogen auf das Subjektive des Vollzugs der Gegebenheitsweisen und des horizonthaften Verweisungsbewußtseins. Kurz: die phänomenologische Analyse hat den Charakter der Reflexion. (Klaus Held in Edmund Husserl: Die phänomenologische Methode. Ausgewählte Texte I. Hg. von Klaus Held. Stuttgart 1990:35)

Man fühlt sich immer wie beim Jogameister.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.09.2018 um 04.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#39542

„When somebody asks me ´What is the form of the table in your living room?´, I can retrieve a spatial image and extract the propositional information that the table is round.“ (Levelt, Willem J. M.: Speaking - From intention to articulation. Cambridge (Mass.)/London 1989:72)

Warum wählt Levelt ein solches Beispiel, bei dem man nichts falsch machen kann? Das Problem mit dem inneren „Vorsichsehen“ ist ja gerade, daß man Einzelheiten nicht nennen kann, obwohl man den Eindruck der Genauigkeit hat. Daß mein Wohnzimmertisch rund ist, weiß ich einfach, da brauche ich mir kein Bild zu machen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.04.2018 um 07.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#38448

Warum sollte man nicht sagen können, wie es ist, eine Rotempfindung zu haben? Man kann doch sonst alles sagen. Aber die Nichtsagbarkeit ist keine Tatsache, sondern aus den sprachlichen Bedingungen abgeleitet. Es gehört zur Beherrschung der Sprache, daß man die Empfindungen für radikal privat und zugleich täuschungssicher hält (sie können täuschen, aber man kann sich nicht darin täuschen, daß man sie hat). Das ist in das sprachliche Konstrukt der Empfindung hineingebaut. Ebenso in das „Denken“: Wenn das Kind diesen Begriff lernt, dann lernt es zugleich, daß Denken eben nicht Sprechen ist und im Gegensatz zum Sprechen nicht gehört werden kann. („Lautes Denken“ ist kein Denken, sondern ein teilweise unkontrolliertes Sprechen.)
Diese Überlegung hilft dabei, wirkliche Einsichten von bloßen (unerkannten) Explikationen der sprachlichen Geschäftsordnung zu unterscheiden. Die „Philosophie des Geistes“ kann wegfallen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.04.2018 um 11.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#38407

However, when a normal person imagines a rose, she does not literally hallucinate a rose; what she experiences is typically a faint, ghostlike impression of one. (Ramachandran)

Ist das wirklich so? Wenn ich mir eine Rose vorstelle, kann ich mir beliebige Einzelheiten vorstellen, so daß, was die Deutlichkeit betrifft, gar nichts Geisterhaftes daran ist. Andererseits ist es auch kein Eindruck (impression), sondern irgendwie ganz anders. Vor allem verbietet es die Eigenaktivität, die Vorstellung auch nur im entferntesten mit einer Wahrnehmung zu verwechseln. Halluzinationen und Träume widerfahren mir (als Person; obwohl sie natürlich ebenfalls von "mir" hervorgebracht sind), Vorstellungen widerfahren mir nicht, sondern werden von mir gemacht.

Die Sprache ist darauf nicht vorbereitet und muß es auch nicht sein, weil die normale Verwendung von "stell dir vor!" usw. ganz unphilosophisch funktioniert. "Stell dir vor, du wärst ein Hund, ein Sänger, ein Bundesminister!" – Darauf reagieren wir, als ob wir dies wären – wir verstellen uns also.
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 25.03.2018 um 14.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#38326

Wenn das Hirn fertige Bilder abspeichern könnte, hätte kein Maler jemals ein Modell gebraucht, sondern einfach auf seinen inneren Speicher zugreifen können. Was man sich merken kann, sind im besten Fall hervorstechende Eigenheiten der Physiognomie, Anatomie oder Kleidung. Deshalb sind Dutzendgesichter schlecht wiedererkennbar und noch schlechter beschreibbar, während ein o-beiniger Zwerg mit Glatze und zusammengewachsenen Augenbrauen im Gedächtnis haftet. Phantomzeichnungen sind deshalb nur in Fällen wie dem letzteren erfolgreich (http://www.donaukurier.de/nachrichten/bayern/nopay-Der-Mann-der-tausend-Gesichter;art155371,2316906). Karikaturen aus dem Gedächtnis sind möglich, Porträts allenfalls nach gründlichstem „Auswendigkernen“ des Objekts und anhand von Vorstudien.

Versuchen Sie einmal, ein genaues Bild Ihrer eigenen Nase, Ihres Mundes, Ihrer Unterlider in Ihr Bewußtsein zu rufen. Es wird Ihnen nicht gelingen, obwohl Sie Ihr Gesicht täglich im Spiegel sehen.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 25.03.2018 um 12.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#38324

Man muß sich gar nicht auf das Vorstellen beschränken. Zur Fahndung nach Verbrechern läßt die Polizei manchmal Phantombilder zeichnen, die schon oft zur Festnahme des Gesuchten geführt haben. Die Art und Weise, wie dabei der Zeuge nach Einzelheiten gefragt wird und wie mit Computerhilfe das ganze Bild aus einzelnen Merkmalen zusammengesetzt wird, könnte auch ein Hinweis darauf sein, wie das fertige Bild, das nun tatsächlich wieder ein optisches Bild ist, vorher in der Erinnerung abgespeichert war.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.03.2018 um 09.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#38321

Es könnte also sein, daß das „Bild“, das ich in der Vorstellung oder Erinnerung zu haben glaube, in keinem Sinne existiert, also auch im Gehirn keinerlei physische Entsprechung vorhanden ist, nach der man suchen könnte, weder an einzelnen Stellen noch verteilt. Dasselbe natürlich bei nichtvisuellen Eindrücken. Der Gehirnzustand besteht ausschließlich darin, das Sprachverhalten zu ermöglichen, das wir als Darstellung eines Eindrucks, einer Erinnerung deuten.

Das sind begriffskritische Überlegungen, aber die Neurologie hat kein Recht, sich darüber zu erheben. Sie wird freilich mit ihren Hirnscans immer etwas finden, wenn sie ihre Experimente schon mit der Vorausetzung beginnt, daß es im Kopf "Repräsentationen" geben müsse, die dem subjektiven Eindruck "entsprechen". Die Erinnerung an ein Musikstück ist verschieden von der Erinnerung an einen Alpengipfel. Der Hirnscan zeigt es. Nur die Interpretation ist unheilbar falsch.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.03.2018 um 16.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#38317

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#37263

Ich sehe es genau vor mir – das läßt sich leicht widerlegen. Könnte es sein, daß das ganze Vorstellen trotz Evidenzbehauptung eine Illusion ist? Schließlich sehen wir evidentermaßen auch weder den blinden Fleck noch die Trennung der beiden Gesichtsfeldhälften. Und mal ehrlich: Sehe ich etwas wirklich genau vor mir? Höre ich wirklich eine Symphonie innerlich? Es kommt mir irgendwie so vor, aber genauer kann ich es nicht sagen.

Ich sehe es genau vor mir – das sagt man gerade dann, wenn man es nicht wirklich sieht, geschweige denn genau. Wenn ich wirklich ein Buch lese, würde ich nie sagen, daß ich es genau vor mir sehe. Die Beteuerung leitet nur gewisse Anschlußbehauptungen ein und bekräftigt ihre Berechtigung.

Ich versuche mir etwas vorzustellen, was ich tatsächlich erlebt habe, z. B. daß ich vor rund 50 Jahren auf dem Schönbichler Horn in den Zillertaler Alpen gestanden habe (warum fällt mir das jetzt ein?). Ein sonniger Herbsttag, es waren noch mehr Leute oben, es ist ja auch ein ganz leichter Wanderweg auf den Dreitausender. Irgendwie kann ich mir immer noch den Gesamteindruck vergegenwärtigen, das herrliche Gipfelgefühl, die Ruhe (bis auf die Menschenstimmen, die ja auf Bergen eigentümlich resonanzlos „trocken“ klingen) usw. – aber ich kann natürlich auf Fragen nach Einzelheiten nicht antworten. Aber eine „allgemeine Vorstellung“ kann es doch nicht geben? Ich kann doch keine allgemeinen Felsen und allgemeinen Blümchen sehen. Das Panorama war wunderbar, aber ich kann es nicht beschreiben.
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 03.03.2018 um 22.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#38022

Nicht nur Architektur-Freihandzeichnungen müssen die Dinge „schief“ darstellen, wenn sie „richtig aussehen" sollen, auch jede Fotografie muß es. Das Betrachten bzw. Verstehen solcher Bilder erfordert gewisse Übung und geht dann zusätzlich ins Erleben ein. So können Ellipse und Kreis zur Deckung gebracht werden.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 03.03.2018 um 19.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#38021

Und beim Architektur-Freihandzeichnen muß man die Dinge so schief darstellen, wie man sie ohne die Erfahrung über ihr wirkliches Aussehen sieht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.03.2018 um 14.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#38016

Im Anschluß an Schwitzgebel (Do Things Look Flat? 2006, auch in „Perplexities“ = http://www.faculty.ucr.edu/~eschwitz/SchwitzAbs/PerplexitiesCh2.htm) kann man sagen, daß es schwer oder gar unmöglich ist zu entscheiden, ob man eine Münze, die auf einem Tisch liegt, als rund oder als elliptisch sieht. Letzteres fordert sozusagen die Philosophie, wobei sie stillschweigend voraussetzt, daß das Bild der Münze auf eine Ebene projiziert wird. Erlebt wird das jedoch nicht, weil in die visuelle Wahrnehmung die Erfahrung des Raumes eingeht. Wir sehen die Münze irgendwie elliptisch, aber irgendwie auch kreisrund.
„Man kann aus dem Bestand unserer Sehwelt (...) die Reste und Spuren früherer Eigentätigkeit überhaupt nicht fortdenken.“ (Gehlen, Mensch 1958:188) (Vgl. http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#37233) Die Tiefenwahrnehmung nutzt verschiedene „Schlüssel“ (Konvergenz, Akkomodation, Bewegungsparallaxe, Texturgradienten...), die wir bei uns selbst kaum beschreiben können, weil wir sie nur zum Teil durchschauen. Über Bewegungsparallaxe und Bedeckungsverhältnisse können wir berichten, über Akkomodation und Konvergenz aber nicht, weil sie unbewußt sind.

Nachtrag:
Versuch mit meiner Frau: Zunächst behauptete sie, sie sehe den Topfrand elliptisch, mußte dann aber zugeben, daß sie ihn nicht so sah, wie sie einen wirklich elliptischen Topfrand sehen würde. Eben! Sie sieht ihn elliptisch, sieht aber zugleich, daß er rund ist. Es fordert eine gewisse Anstrengung, die Ellipse zu sehen.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 06.02.2018 um 10.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#37737

Ja, einverstanden, ich wollte nur verdeutlichen, daß auf beiden Netzhäuten zwei verschiedene Bilder einfallen, und was mit dem vertikalen Spalt bzw. der vertikalen Trennlinie gemeint ist - eben der irgendwie geartete Zwischenraum bzw. die getrennte Erfassung der Abbilder. Die abnehmende Randschärfe kann man evtl. auch noch technisch simulieren und auf den Bildschirmen darstellen. Die Weiterverarbeitung durch Körper und Gehirn läßt sich natürlich so nicht veranschaulichen. Für das halluzinatorische Sehen spielen die Augen nicht unbedingt eine Rolle, das ginge unter bestimmten Umständen auch bei Blinden. Diese Bilder entstehen nicht auf der Netzhaut, sondern im Bewußtsein ohne physikalischen Seheindruck, sie werden ab einer bestimmten Stufe ähnlich verarbeitet.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.02.2018 um 05.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#37731

Räumliches Sehen nutzt sowohl die Parallaxe bei beidäugigem Sehen als auch die parallaktische Verschiebung bei Eigenbewegung, aber auch die Gradienten bei einäugigem und noch andere Erfahrungswerte. (Gibsons Forschungen sind sehr bekannt geworden.)

Meine Augen sind sehr ungleich (drei Dioptrien). Ohne Brille lese ich praktisch nur mit dem linken und sehe mit dem fast wieder normalen (Altersweitsichtigkeit) rechten in die Ferne. Statt dreier Brillen (Lesen/Fern als Zweistärkenglas, Notebook, "Fernsehen") empfahl mir der Augenarzt vorige Woche eine Gleitsichtbrille, aber ich weiß nicht recht; sie würde mich automatisch zu bestimmten Kopfhaltungen bringen, und da habe ich Bedenken. Er meint selbst, wenn ich mit meiner unorthodoxen Art zu lesen zufrieden bin, dann sei dagegen nichts einzuwenden. Die Hauptsache ist ja, daß kein Auge ausgeschaltet und langfristig stillgelegt wird (vgl. Hinweis von R. M.).
Ich will nicht zuviel von mir reden, aber schließlich spielt es eine Rolle für mein Interesse am Sehen. Also ich habe links noch eine schwache Metamorphopsie, was eine kleine Ausbuchtung senkrechter Linien im Zentrum bedeutet, wahrscheinlich seit einem Fahrradunfall vor fast 20 Jahren. Man kann sehen (phantastische Technik!), daß der Glaskörper punktuell mit dem Häutchen über der Fovea verklebt ist und sie etwas wölbt, was eine zusätzliche Brechung bewirkt; das könne sich, so der Arzt, eines Tages auch wieder lösen, dann würde die Krümmung verschwinden.
Was aber interessant ist: beim Lesen von Texten in Buchstabenschrift stört es mich nicht, die Krümmung wird vollständig ignoriert. Nicht so bei chinesischen Zeichen. Sie sind mir nicht vertraut genug, ich muß jeden Strich genau sehen, der Kontext hilft fast gar nicht, weil mir die Übung fehlt. Ein weiterer Beweis für die konstruktive Natur des Sehens.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.02.2018 um 04.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#37730

Lieber Herr Riemer, wie wir schon anläßlich von Ernst Machs berühmter Zeichnung gesehen haben, ist das in Wirklichkeit nicht möglich. Die Sammellinse allein würde wie eine Kamera arbeiten, aber das Auge funktioniert ganz anders. Die Kamera müßte eine Entsprechung der Fovea haben, was vielleicht mit einer Scharfstellung in einem ganz kleinen Meßfeld in der Mitte halbwegs simuliert werden könnte. Aber wie steht es mit der schnell abnehmenden Randschärfe und dem Nebeneinander von Stäbchen und Zäpfchen und dann - das ist das Entscheidende - mit der nachweisbaren Erfahrungsabhängigkeit der Rekonstruktion des vermeintlich nur Wahrgenommenen? Wie sind die "Handlungseinschüsse" (die Erfahrung früherer Eigenbewegung, die in das räumliche Sehen einfließt) nachzubilden?
Und schließlich mein Ausgangspunkt, das Halluzinieren? Ein kompletter Seheindruck ohne sensorischen Input. Die Hypothese ist: Das ist der Normalfall des Sehens, der Input kommt nur noch hinzu.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 05.02.2018 um 20.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#37729

Das Sehen mit zwei Augen ermöglich vor allem ein räumliches Erfassen der Situation.

Es gibt Bilddarstellungen, wo zwei Bilder im Augenabstand aufgenommen und nebeneinander gedruckt sind. Mit ein wenig Übung kann man durch Betrachten einen realistischen räumlichen Eindruck mit einem verschmolzenen Bild gewinnen.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 05.02.2018 um 18.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#37728

Man kann das Gesichtsfeld des linken Auges mit einer Kamera aufnehmen, die unmittelbar neben dem Auge gehalten wird, ebenso das Gesichtsfeld des rechten Auges mit einer weiteren Kamera. Eine Kamera vielleicht etwas weniger scharf als die andere, vielleicht auch unterschiedlich große Gesichtsfelder. Beide Aufnahmen schauen wir uns später synchron auf zwei verschiedenen Bildschirmen an, dazwischen ist mehr oder weniger Zwischenraum. So etwa sieht der Input für unser Gehirn aus.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 05.02.2018 um 10.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#37727

Wenn ein Auge besser ist als das andere, werden die Informationen des schlechteren nur für einen kleineren Teil des Gesichtsfeldes genutzt; die Grenze verläuft dann also nicht in der Mitte.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.02.2018 um 10.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#37726

Wie bereits bemerkt, ist es uns ganz unmöglich, uns die Trennung der beiden Gesichtsfeldhälften, also eventuell einen senkrechten Spalt bewußt zu machen, obwohl wir doch ganz genau wissen, daß es physiologisch diese Trennung gibt.
Das ist aber weniger verwunderlich, wenn man sich daran erinnert, daß das "Bild", das wir vor Augen zu haben glauben, gar nicht nach Art eines optischen Systems entstanden ist, sondern das Ergebnis einer computerähnlichen Berechnung und als reelles Bild überhaupt nirgends existiert.
Es bietet sich der Vergleich mit einer visuellen Halluzination an. Ich hatte noch keine, zumal ich keine Drogenerfahrung habe. Aber nehmen wir den alten Herrn, der mäßig unter Demenz litt und gelegentlich Halluzinationen hatte. Dann sah er Tochter und Schwiegersohn ganz leibhaftig im Zimmer sitzen und konnte nur durch einen Telefonanruf bei den wirklichen Personen einigermaßen davon überzeugt werden, daß seine Wahrnehmung irrig sein mußte. War die Tochter allein im Zimmer, konnte er untröstlich darüber sein, daß sie sich von ihrem Mann getrennt habe (wovon natürlich keine Rede sein konnte).
Dies zeigt noch deutlicher als der problematische Traum, daß Wahrnehmung ein Produkt ist. Das wirkliche Sehen ist ungefähr dasselbe wie eine Halluzination, nur mit dem zusätzlichen steuernden Reiz, den das Auge vermittelt.
Warum nun sollte das Hirn eine senkrechte Trennung der beiden Gesichtsfeldhälften errechnen, wo es doch in Wirklichkeit keine gibt? Nein, es interpoliert ganz realistisch und erzeugt den "Eindruck" einer bruchlosen Wirklichkeit, wie sie für das Hantieren usw. erforderlich ist.
Diese Darstellung ist insofern noch irreführend, als wir an das reelle Bild auf dem Monitor denken, aber das gibt es beim Sehen nirgendwo. Das praktische Handeln und auch das Sprechen über unsere Gesichtseindrücke werden vom Sehhirn gesteuert, aber nicht durch Betrachten eines weiteren Bildes!
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.01.2018 um 12.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#37677

Natürlich kann man das von außen beschreiben, ich habe es ja auch getan. Mir geht es um die "Erlebnissprache". Wie ich es beim peripheren Sehen mit Eindrücken zu tun habe, die sich irgendwie nicht recht ausdrücken lassen, so auch hier: Man fühlt die Rauhigkeit ja nicht buchstäblich in der Stockspitze, aber irgendwie auch nicht in der Hand, obwohl das physiologisch natürlich richtig wäre. Bei einer Ausschaltung der Empfindung durch Vereisung der Hand (der Handnerven) spürt man nichts mehr, der Stock wirkt dann "taub".
Das Aroma glauben wir vollkommen überzeugend im Mundraum zu verspüren, obwohl es erst im Nasenraum wahrgenommen wird. Auch eine Art Projektion.

(Ich mußte hier "irgendwie" schreiben, denn gerade darum geht es.)
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 30.01.2018 um 11.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#37676

Wieso versagt hier die Sprache? Man sagt doch gerade »er tastete mit seinem Stock« usw.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.01.2018 um 07.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#37673

Schwer zu beschreiben ist auch folgendes:

Wenn ich mit einem Stock eine Oberfläche abtaste oder etwa mit dem Kochlöffel über den Boden des Suppentopfes streiche, verlagert sich gewissermaßen das Ende der Nerven in die Spitze des Stocks oder Löffels. Ich spüre die Rauhigkeit der Oberfläche "in" der "Prothese", nicht in der Hand. "Wilfrid Trotter, the surgeon, said that when a surgeon uses an instrument like a probe he actually refers the sense of touch to its tip. The probe has become an extension of his finger." (Peter Medawar)

Mehr oder weniger täppische Vergleiche, die phänomenale Sprache versagt im Grunde.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.01.2018 um 07.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#37649

Bei der Gesichtsfeldmessung, die den meisten von der augenärztlichen Untersuchung her bekannt sein dürfte, sieht man periphere Lichtpunkte bis zum äußersten Rand des Gesichtsfeldes, weitab vom Fokus, und zwar durchaus scharf umgrenzt; jedenfalls scheint es so, im Gegensatz zur sonstigen Konturlosigkeit am Rande. Das ist eigentlich nicht zu erwarten. Aber gerade zur Entdeckung plötzlich an der Seite auftauchender Erscheinungen ist das Auge so ausgestattet (ohne die hier irrelevante Farbe). Vgl. http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1106#36825
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.12.2017 um 06.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#37263

Ich sehe es vor mir gebraucht man fast nie im wörtlichen Sinn, sondern meistens in Bezug auf Vorstellungen und Erinnerungen.

Solche Aktivitäten, über die man vermeintliche introspektive Berichte liefern kann, haben auch physiologisch eine entfernte Ähnlichkeit mit wirklichem Sehen. Auch dieses ist ja keine Projektion von Bildern, sondern ein Abtasten und Berechnen.

Es gibt nirgendwo im Gehirn etwas, was sich als "Bild" bezeichnen ließe (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#37233). Vielmehr findet die "Computerarbeit" in Dutzenden von visuellen Feldern statt. Erste Annäherung liefert Schaltbilder wie diese: https://www.google.de/search?q=visual+field+van+essen&tbm=isch&source=iu&ictx=1&fir=DGxg9BeZO3dBdM%253A%252CHp5kkmLJXj1H-M%252C_&usg=__R7AQvGso8ihzyWXmXkLY3NO6Aqg%3D&sa=X&ved=0ahUKEwiNrI6ftYLYAhVCDOwKHaYqC54Q9QEIMDAA#imgrc=P-NjiCKygiz99M:
Sie sind funktional zu verstehen, die "technische" Realisierung ist weitgehend unbekannt. Jedenfalls geht es nicht darum, aus den groben Netzhaut-Daten ein Bild zu machen, sondern darum, weiteres Verhalten zu ermöglichen.

"Unsere visuelle Wahrnehmung ist viel genauer, als bei dem Auflösungsvermgen unserer Netzhaut zu erwarten wäre." (Posner/Raichle 76f.)
Darüber hat sich ja schon Helmholtz gewundert: „Würde mir jemand ein optisches Gerät mit solchen Fehlern anbieten, würde ich es in aller Deutlichkeit zurückweisen.“
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.12.2017 um 10.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#37234

Wenn ich einen Backstein sehe und mich anschicke, ihn hochzuheben, stellt sich meine Muskulatur auf ungefähr 3 kg ein; so hat sie es in Verbindung mit dem Auge gelernt. Ich „weiß“ nicht, „daß“ er 3 kg wiegt, sondern ein solches „Wissen“ (d. h. eine daß-Äußerung) kann ich bei Bedarf, etwa auf eine Frage hin, aus der Einstellung meiner Muskeln konstruieren. Das ist ein zweites Verhalten neben dem Heben und mit ihm auf eine gelernte Weise verbunden, die gesellschaftlich sehr nützlich ist.
(Der Backstein kann aus Styropor und entsprechend gefärbt sein, etwa als Requisit im Theater oder Film; dann schnellt der Arm unangemessen hoch wie bei jenem Gag mit dem leeren Koffer im Stummfilmkintopp.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.12.2017 um 10.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#37233

Beim Sehen wird nirgendwo im Nervensystem ein „Bild“ des Gesehenen entworfen. Das Netzhautabbild ist die erste und letzte Gelegenheit, annähernd von einer Abbildung zu sprechen. Schon die erste Analyse durch Zäpfchen und Stäbchen und deren Querverschaltung bringt eine grundlegende Änderung hervor. Weiter geht es mit frequenzmodulierten Impulsen, und dann wird der Sehraum nur noch als Verhaltensspielraum weiteranalysiert – was sonst? Der Organismus ist schließlich eine Überlebensmaschine, sonst nichts.
Die Tiefenwahrnehmung beruht auf gründlich untersuchten Hinweisen („cues“) wie Parallaxe, Körnigkeitsgradienten usw., die aber nicht Selbstzweck sind, sondern Verhalten ermöglichen: Greifen, (Zeigen), Werfen, Gehen. Dazu braucht man kein Bild, sondern koordinierte Einstellungen der Muskulatur. Auch der Bericht über vermeintlich ganz private Seheindrücke ist ein solches Verhalten. Zu wenig Beachtung finden in den psychologischen und physiologischen Darstellungen meist die „Handlungseinschüsse“, also die Erfahrung mit Eigenbewegung:
„Man kann aus dem Bestand unserer Sehwelt (...) die Reste und Spuren früherer Eigentätigkeit überhaupt nicht fortdenken. ... Handlungseinschüsse im Aufbau der menschlichen Wahrnehmung.“ (Arnold Gehlen: Der Mensch ... 1958:188)

Das ist freilich in die gängigen Modelle schwer einzubauen und erscheint schon deshalb nicht bei „bildgebenden Verfahren“ (vgl. etwa Posner/Raichle: Images of Mind, dt. Bilder des Geistes), weil man gar nicht erst danach sucht. Es gibt aber auch hausgemachte begriffliche Schwierigkeiten, weil eine Verhaltensdisposition sich nicht als „Wissen, daß...“ darstellen läßt und daher die übliche kognitivistische Psychologie hier einen blinden Fleck hat.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 21.08.2017 um 16.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#36034

Besonders die vier Aggregatzustände gasförmig, flüssig, fest, ionisiert.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 21.08.2017 um 15.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#36032

Auch Tatsachen werden manchmal als unverrückbar hingestellt. Viele Menschen sehen nicht, daß Tatsachen im Augenblick gelten und meist keine unabänderlichen Zustände sind. Darum sollte man auch Zustände immer wieder neu prüfen und beurteilen und evtl. korrigieren.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.08.2017 um 14.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#36031

Sehr wahr. Zur Lebensweisheit gehört auch, seine Zeit nicht mit Diskussionen zu verplempern, wenn man gemerkt hat, daß jemand um seiner festen Meinungen willen keine Tatsachen zur Kenntnis nehmen will. Gilt für "Klimaskeptiker", Homöopathiegläubige usw.

Ob man eine größere Offenheit lernen kann, steht dahin, weil es wohl etwas mit dem sog. Charakter zu tun hat.

Interessanterweise begnügt unsere Wahrnehmung sich nicht mit "festen Meinungen", so erfreut sich auch zunächst darüber sein mag. Der Neckersche Würfel und andere Kippfiguren sind zunächst sonnenklar, aber dann kippen sie um, und nichts kann diesen Vorgang aufhalten. Ob der Mensch seine Überlegenheit nicht gerade dieser Eigenschaft verdankt und sie deshalb angeboren ist? Sehr erfolgreich sind ja auch die Ratten mit ihrer bekannten Neugier (Explorationsverhalten). Neu-Gier – das ist es!
 
 

Kommentar von Germaist, verfaßt am 21.08.2017 um 14.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#36030

Für viele Menschen gilt: "Verunsichern Sie uns nicht mit Tatsachen! Wir haben schon eine feste Meinung."

Seine eigenen Überzeugungen immer wieder auf den Prüfstand zu stellen, muß man gelernt haben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.08.2017 um 06.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#36028

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#33308

Diese und andere optische Illusionen zeigen, daß unser Gehirn (um es mal salopp auszudrücken) das Gesamtbild nicht wie ein Foto herstellt, sondern aus bestimmten Schlüsselreizen konstruiert. Im allgemeinen funktioniert das. Die Psychologen erfinden Bedingungen, unter denen es nicht funktioniert. Die Schlüsselreize werden zur Konstruktion eines Bildes genutzt, das ausnahmsweise nicht der Wirklichkeit entspricht. Beunruhigend ist das Erlebnis einer "Evidenz", die sich als trügerisch erweist. Man denkt sich: Ob das nicht außerhalb der Sinneswahrnehmung auch so ist und jenen Satz Russells rechtfertigt, daß Evidenz der Feind der Wahrheit sei? Gerade seine festesten Überzeugungen sollte man vielleicht ab und zu verflüssigen und ganz neu überdenken.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.04.2017 um 17.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#34922

Zum vorigen: Heute bringt die FAZ auf der Wissenschaftsseite einen guten Beitrag des Psychologen und Neurokritikers Stephan Schleim, der sich schon früher um die Entblätterung der neurosophischen Hochstapelei verdient gemacht hat. Auch Singer und Roth werden erwähnt, Spitzer leider nicht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.04.2017 um 05.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#34892

Blickkontakt behindert das Nachdenken:
http://keenetrial.com/blog/category/neurolaw/

(Auf derselben Website:
http://keenetrial.com/blog/2013/12/11/brain-porn-that-is-so-2008-neuro-skepticism-is-where-its-at/

Die bunten Bildchen von Hirn-Scans verlieren allmählich ihren Zauber. "Brain porn" ist ein verbreiteter Ausdruck für das, was ich "Neurowahn und Neurobluff" nenne.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.11.2016 um 12.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#33789

Säuglinge schauen zuerst auf den sich bewegenden Mund der Mutter (etc.), später auf die Augen. (Dieser Wechsel wird von der Mutter als Markstein der Beziehung und der "Menschwerdung" erlebt; Jerome Bruner hat darüber geschrieben.) Warum auf die Augen?
Die Augen zeigen an, wovon die Mutter spricht, worauf ihre Aufmerksamkeit gerichtet ist. Diese Blickdeixis geht der Zeigefingergeste weit voraus.
Später spielt der Blickkontakt eine große Rolle beim Turn-taking, der Übergabe der Sprecherrolle also. S. Hans Hörmann: Meinen und Verstehen 330, mit Verweis auf Kendon u.a.)

Interessant noch dies:

Nur Menschen haben weiße Augäpfel
Der Kontrast zwischen Iris und Augapfel ermöglicht uns besseren Blickkontakt.
Wenn man sagt, daß ein Mensch blaue Augen hat, dann meint man die Farbe der Iris (Regenbogenhaut). Der Rest des Augapfels ist bei allen Menschen weiß. Dadurch unterscheiden wir uns von allen Affen, bei denen der Augapfel etwa die gleiche Farbe wie die Iris hat. Das haben nun Studien japanischer Forscher an 81 Primaten-Arten bestätigt (Journal of Human Evolution, 40, S. 419). Diese Spezialität ermöglicht es uns, auch auf größere Entfernung zu erkennen, wo ein Mitmensch hinschaut. Das erlaubt Blickkontakt bei größerem Abstand oder in einer Menschenmenge sowie den Austausch von Signalen und Hinweise auf Objekte ohne Bewegung des Kopfes. Tatsächlich verändern Menschen ihre Blickrichtung nur durch Augenbewegungen viel öfter und stärker als andere Primaten.
Den Affen bringen ihre dunklen Augäpfel wieder anderen Nutzen. So kann es bei in Gruppen lebenden Affen im Konkurrenzkampf um Sexualpartner oder Nahrung besonders für schwächere Tiere von Vorteil sein, wenn die anderen Gruppenmitglieder nicht leicht sehen können, wo sie hinschauen. Und auch ein Raubtier kann so nicht erkennen, ob die angestrebte Beute es schon erblickt hat.

(Die Presse, Wien, 26.5.2001)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.09.2016 um 20.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#33308

Eine Variante der bekannten Zusammenhänge verbreitet sich zur Zeit in den Medien: https://twitter.com/wkerslake/status/775105333333204992/photo/1
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.05.2016 um 13.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#32602

Wobei zu unterscheiden wäre zwischen optischer Fokussierung (Scharfstellung) und Lenkung der Aufmerksamkeit.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 17.05.2016 um 11.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#32601

Und das Sehen von etwas Nichtfokussiertem ist nicht dasselbe wie nichtfokussiertes Sehen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.05.2016 um 10.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#32600

Ja, man könnte sagen: Der periphere Sehen eines Gegenstandes ist nicht dasselbe wie das Sehen der Peripherie eines Gegenstandes.
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 17.05.2016 um 08.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#32598

Ein Gegenstand immerhin, der einen ganzen Kosmos beinhalten und sehr wohl etwa das Abschätzen von Entfernungen mittels Tiefensehens in seinem konstruierten Raum ermöglichen kann. Ob man dort metaphorisch hineinblickt oder nicht – die Wahrnehmung läßt sich darauf ein. Ihr Resultat abbilden zu wollen, ist freilich verfehlt, weil wir es mit denselben Augen betrachten müssen wie alles andere.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.05.2016 um 04.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#32593

Versteht sich, daß jede Darstellung auch wieder gesehen wird wie jeder andere Gegenstand. "Hindurchblicken" ist natürlich metaphorisch.
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 16.05.2016 um 18.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#32592

Perspektivische Darstellungen lassen einen nicht das Bild sehen, sondern durch es hindurchblicken, wobei nicht fokussierte Bereiche durchaus peripher gesehen werden können.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.05.2016 um 17.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#32589

Keine Malerei und keine Fotografie kann den Unterschied zwischen zentral und peripher Gesehenem wiedergeben. Der Grund liegt darin, daß das Sehen ein Verhalten ist, während das Bild, ob gemalt oder fotografiert, ein Gegenstand ist, der gesehen wird. Ich sehe die Peripherie meines Gesichtsfeldes nicht, sondern sie ist ein Sehen oder ein Teil des Sehens als Verhalten.
Auch die Erfahrung eigener Bewegung, die im Tiefensehen genutzt wird, läßt sich nicht ein Bild einbauen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.01.2016 um 06.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#31155

Ganz aufgeklärt ist es anscheinend nicht, aber beim "Blindsehen" scheint nur ein Teil der gewöhnlich beim Sehen aktiven Nervenbahnen tätig zu sein. Die Person reagiert auf einen visuellen Reiz, weiß aber nichts davon, d. h. (dieses d. h. ist der springende Punkt!) kann nichts darüber sagen. Das Verhalten ist also keine Handlung. Es wird nicht in den Kreis von möglicher Ankündigung und möglichem Einspruch anderer eingespannt. Im übrigen kann es aber feinmotorisch angepaßt sein wie anderes gelerntes Verhalten.
In vielen Lehrwerken wird immer noch von "Bewußtsein" gesprochen; es wäre bestimmt auch für die biologische Psychologie günstiger, die Begrifflichkeit von vornherein naturalistisch einzurichten, wie ich es in meinem Text "Naturalisierung der Intentionalität" angefangen habe.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 26.04.2015 um 21.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#28708

Setzt nicht gerade stochern im allgemeinen schon den Gebrauch des Werkzeugs voraus? Dann wäre umgekehrt mit den Fingern stochern metaphorisch.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.04.2015 um 18.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#28707

"Wilfrid Trotter, the surgeon, said that when a surgeon uses an instrument like a probe he actually refers the sense of touch to its tip. The probe has become an extension of his finger."

Das ist eine ganz alltägliche Erfahrung, die auch auf ein sprachliches Problem hinweist. Wenn ich mit einem Kochlöffel in einem Topf herumstochere, ist auch "irgendwie" die Tastempfindung in die Spitze des Kochlöffels verlagert. Dort spüre ich die Unebenheiten des Topfbodens. Aber dort sitzen ja keine Nerven, es ist also eine Art Metapher – nur wofür?
Man kann seine Finger so verschränken, daß man nicht genau weiß, ob anschließend ein Finger der linken oder der rechten Hand berührt wird. Das ist auch seltsam. Es sollte doch klar sein, wie die Nervenbahnen verlaufen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.02.2015 um 10.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#28094

Da ich gerade die Übersetzung eines Gedichtes "Mouches volantes" überarbeite, fällt mir ein, daß diese Erscheinung, die wohl jeder kennt, auch ziemlich schwer zu beschreiben ist. Ein undeutlicher Eindruck ist auch hier etwas anderes als der Eindruck von etwas Undeutlichem. Man ist auf einen Appell an die eigene Erfahrung des Hörers angewiesen. Bei Wikipedia gibt es eine recht gute Annäherung zu betrachten, nach der "Impression" eines Betroffenen: http://de.wikipedia.org/wiki/Mouches_volantes.

Heute morgen habe ich etwas aufmerksamer zugesehen, was eigentlich geschieht, wenn ich meinen Tee aufbrühe. Ich hänge also den papierenen Teefilter in die Glaskanne und gieße kochendes Wasser drüber. Aus dem Filter lösen sich rotbraune Streifen, sinken leicht turbulent herab und verteilen sich dünner werdend durch die ganze Kanne. Konvektionsströme vermischen das Ganze weiter, bis nach wenigen Minuten die ganze Kanne von einer völlig homogen scheinenden braunen Flüssigkeit erfüllt ist (was aber bekanntlich auch ohne Strömung eintreten würde). Jene "Streifen" haben es mir angetan, weil ich nicht weiß, ob ich von Schlieren oder von Schwaden sprechen soll. Schwaden gibt es eigentlich nur in der Luft, aus Rauch, Dampf, Nebel; übertragen auch im Weltall. Schlieren sind in allen Aggregatzuständen zu finden, in Glas, Flüssigkeiten und auch in der Luft, wo sie z. B. das Hitzeflimmern verursachen. Man könnte Schlieren, die auf unterschiedlichem Brechungsindex beruhen, von solchen unterscheiden, die auf verschmierten Oberflächen entstehen (Fett auf Fensterscheiben und Autolack). Beispiele bei Wikipedia s. v. - Wohl immer streifig.

"Amorphes" (Wikipedia) ist immer schwer zu beschreiben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.12.2014 um 05.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#27524

Wundt verlangte introspektiv geschulte Beobachter, ebenso Titchener. Wenn jemand eine Tischplatte als rechteckig wahrzunehmen behauptete, war er im Irrtum, er hätte die Trapezform berichten sollen, die das Abbild auf der Retina einnahm.
Aber wir nehmen die Tischplatte nicht trapezförmig wahr. Es kommt die räumliche Tiefe hinzu, sowohl durch beidäugiges Sehen als auch durch die Tiefenschärfe und andere Ungleichmäßigkeiten in jedem Auge. Es geht ja nicht nur um die Funktion der Linse. Man braucht nur ein wirkliches Trapez danebenzuhalten, um den Unterschied zu erkennen. Außerdem hätten die Psychologen, wenn sie denn schon das bewußtseinsfremde Netzhautbild zum Kriterium erheben wollten, zwei Trapeze ansetzen müssen, für jedes Auge eins - schließlich werden die beiden Bilder erst auf höherer Ebene integriert. Und wo bleibt die vertikale Trennlinie zwischen den Gesichtsfeldhälften?
Man muß die Wahrnehmung durch allerlei sinnreiche Vorrichtungen künstlich einschränken, damit die Versuchsperson annähernd den Eindruck eines Trapezes hat. Gerade wenn dies erreicht ist, täuscht sich der Beobachter also.
Es ist wie beim Rand des Gesichtsfeldes: Die Probanden können gar nicht sagen, was sie „eigentlich“ wahrnehmen – bevor ihr Wissen dazukommt und ihnen sagt, worum es sich handelt. Die introspektionistischen Psychologen haben den Leuten das scheinbar Evidente mit Engelszungen eingeredet, und es wurde geglaubt. (In diesen Zusammenhang gehört auch die törichte Frage, wie das Gehirn die Bilder aufrichtet, die doch auf der Netzhaut auf dem Kopf stehen!)

(Ich bin zu diesem Eintrag angeregt worden, nachdem sich gestern mein Optiker fast zwei Stunden Zeit genommen hat, mir eine neue Brille zu verpassen. Er stellte fest, daß in meiner alten eine zylindrische Komponente fehlte; der Augenarzt scheint das übersehen zu haben. Auch sonst war es wieder recht interessant.)
 
 

Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 28.07.2014 um 12.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#26417

Ohne den bekannten Trick können wir den blinden Fleck nicht wahrnehmen, auch nicht mit einem Auge allein. Über die Frage, ob unser Gehirn ihn ignoriert oder aktiv ausfüllt, ist diskutiert worden.

Es gibt noch mehr solcher Phänomene: In der zentralen Fovea sind keine Zäpfchen für blaues Licht, so daß wir nicht unterscheiden können, ob ein Zeichen in der Größe eines kleinen o mit blau oder schwarz ausgefüllt ist. Das macht das Lesen von gelber Schrift auf weißem Hintergrund oder blauer auf schwarzem nahezu unmöglich, jedenfalls mehr als aufgrund der Luminanzunterschiede erklärbar ist.

Die mMn wichtigste Leistung, die unser Gehirn erbringt, ist der Ausgleich der unterschiedlichen Auflösung zwischen zentralem und peripheren Gesichtsfeld, so daß wir aufgrund der visuellen Wahrnehmung zu physikalisch richtigen Handlungen befähigt werden, z.B. die Flugbahn eines Balles so zu bestimmen, daß wir ihn fangen oder zurückspielen können etc.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 28.07.2014 um 12.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#26415

Die ersten Gleitsichtbrillen bildeten nur jeweils ein kleines Gesichtsfeld verzerrungsfrei ab, nämlich nur das was man direkt ansah, und verlangten deswegen dauernde Kopfbewegungen. Deshalb waren sie im Straßenverkehr gefährlich und für viele handwerkliche Arbeiten unbrauchbar.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.07.2014 um 05.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#26414

Ohne den bekannten Trick können wir den blinden Fleck nicht wahrnehmen, auch nicht mit einem Auge allein. Über die Frage, ob unser Gehirn ihn ignoriert oder aktiv ausfüllt, ist diskutiert worden. Alva Noë zum Beispiel hat gut darüber geschrieben.

Noch erstaunlicher könnte man finden, daß die senkrechte Naht, die unser Gesichtsfeld aus physiologischen Gründen teilen müßte, absolut nicht wahrnehmbar ist. Erst ein Schlaganfall bringt sie "phänomenal" zu Bewußtsein. Ich möchte das Problem so darstellen:

Zur Orientierung in unserer Umgebung können wir keine senkrechte Naht im Gesichtsfeld gebrauchen, also gibt es sie nicht. Meine Reaktion auf die Frage danach besteht in der Auskunft, daß ich sie nicht wahrnehme; so auch das übrige Verhalten. Die Selbstauskunft ist nichts Besonderes. Es gibt nicht neben dem Verhalten noch die reine Betrachtung der Phänomene. Nur unter bestimmten Anforderungen bringen wir eine "phänomenale" Beschreibung hervor, die aber nicht stimmig ist und an kein Ende kommt, weil die Aufmerksamkeit immer wieder auf anderes gelenkt werden kann.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.01.2013 um 09.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1541#22334

Noch deutlicher läßt sich das Problem vielleicht so darstellen: "Beschreiben Sie, was Sie gerade nicht beachten!" Das ist so paradox wie: "Achten Sie auf das Unbeachtete!"

Die Phänomenologen im Anschluß an Husserl haben sich abgemüht, das "Nichtthematische" sprachlich zu fassen – also zu thematisieren.

Das ist unmöglich, nicht aus sachlichen, sondern aus begrifflichen Gründen. Wir müssen nur begriffen haben, daß Aufmerksamkeit und Sprache immer "foveal" sind, um es mal so auszudrücken. Es gibt kein "peripheres" Sprechen.
 
 

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