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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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02.08.2011
 

Der Sozialismus in seinem Lauf
Ein Experiment

Lustiger Hörfehler

In der Besprechung eines Konzerts (an dem auch meine Frau als Chorsängerin mitwirkte) wurde Jon Lords "Thälmann Experiment" erwähnt, auf Einspruch hin dann zu "Telemann Experiment" korrigiert ...



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Kommentare zu »Der Sozialismus in seinem Lauf«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.02.2024 um 05.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1476#52721

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1476#19126

Die durchideologisierte Linguistik der zu Ende gehenden DDR versuchte, „auf der Grundlage eines historisch-materialistischen Geschichtsbildes gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen der Entwicklung der Sprache und der Sprachträger, d. h. der Gesellschaft, aufzudecken“. Das gelang natürlich nicht. Da gab es z. B. das hochentwickelte Sanskrit in einer nach marxistischem Geschichtsbild primitiven Gesellschaft. Aber das macht nichts. Der Widerspruch löst sich auf durch „konsequente Anwendung der dialektischen Beziehung zwischen Historischem und Logischem, von ENGELS erstmals in der Sprachgeschichtsschreibung praktiziert“.

Das ist aus der „Kleinen Enzyklopädie deutsche Sprache“ von 1983. Die zweibändige erste Auflage von 1969 war noch frei von solchen Kapriolen und ohne die Polemik gegen die BRD, auch sehr faktenreich und trotz schlechtem Papier von wesentlich höherer Qualität. Das ideologische Abgrenzungsbedürfnis der SED wurde ja durch die politische Annäherung seit Anfang der 70er Jahre stärker. Von da an wurde auch die Existenz zweier deutscher Nationen und Sprachen behauptet, während man vorher die Spaltung durch den Westen bedauert hatte. In der zweiten Auflage ist Engels die höchste Autorität, seine Spekulationen über die Menschwerdung durch Arbeit sind die endgültige Wahrheit, und auch sonst hat er alles schon gewußt. Die sowjetische Sprachwissenschaft ist vorbildlich, aus ihr stammt auch der Begriff „Literatursprache“ (für Standardsprache). Und es heißt jetzt „indoeuropäisch“ statt „indogermanisch“. Die Geschichte wird nach dem bekannten Schema in Urgesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus und Sozialismus eingeteilt. Die germanische Lautverschiebung findet man also unter „Urgesellschaft“ (als ob die Germanen gerade von den Bäumen herabgestiegen wären). Der Kapitalismus ist durch Dialekte gekennzeichnet, die im Sozialismus „im Rückgang“ begriffen seien. (Die Dialektforschung – vor allem zum Niederdeutschen – hatte es in der DDR schwer, weil Dialekte gemäß der Leninschen Doktrin als feudalistisch-rückständig und spalterisch galten und im Sozialismus abzusterben hatten.) Ständig wird die Sprachgeschichte rhetorisch mit den Produktionsverhältnissen und Produktionsmitteln kurzgeschlossen. (Ich erinnere mich noch an die linken Kommilitonen, die zwar nie „in der Produktion“ gewesen waren und dies auch nicht vorhatten, aber in jedem zweiten Satz die leicht faßliche Lehre von den „Produktionsverhältnissen und Produktionsmitteln“ unterzubringen wußten.)

Rührend ist die Erwähnung von Hermann Pauls „Prinzipien der Sprachgeschichte“, „deren umfassende Rezeption durch die marxistisch-leninistische Sprachtheorie noch aussteht“. Dazu sollte nicht mehr kommen, weil es wenige Jahre später mit dem faulen Zauber vorbei war. Die erste Auflage ließ sich noch bruchlos an Paul und die große Tradition der historischen Sprachwissenschaft anschließen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.04.2014 um 12.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1476#25620

Nimmt man mit Eggers eine Gliederung der deutschen Sprachgeschichte nach sozialhistorischen Kriterien vor und sieht beispielsweise „die alt- und mittelhochdeutsche Sprachperiode als vom Adel, die frühneuhochdeutsche und neuhochdeutsche als vom Bürgertum geprägt“ (Eggers 1977: 180), so lässt sich in der Tat nach der Mitte des 20. Jahrhunderts eine neue sprachhistorische Epoche ansetzen (ebd.): „Das Bürgertum in dem hier gemeinten Sinne existiert heute nur noch in Resten; es wird in zunehmendem Maße in eine nicht mehr ständisch gegliederte Gesamtgesellschaft integriert.“ (Jochen A. Bär: „Bildwörter und Wortbildungen Strukturelle Besonderheiten neumedialer Varietäten in sprachhistorischer Bewertung“. Germanistische Mitteilungen 59/2004, 65-81)
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Diese Epoche soll „Spätneuhochdeutsch“ heißen. Aber erstens ist es mißlich, die eigene Epoche als „spät“ zu erkennen; zweitens kann man Sprachepochen nicht danach einteilen, was die Sprache geprägt hat, weil das nur hypothetische Ursachen sind. Die Sprachentwicklungsstufen bleiben ja, auch wenn die Hypothesen sich als irrig erweisen sollten. Hans Eggers und Peter von Polenz gliedern die Sprachgeschichte sehr ähnlich wie die SED-Sprachhistoriker sozialgeschichtlich, aber sie können natürlich die sprachlichen Kennzeichen wie etwa die frühneuhochdeutschen Mono- und Diphthongierungen usw. in gar keiner Weise mit den sozialen und historischen Zuständen in Verbindung bringen.
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Die nach 1945 im Westen Deutschlands einsetzende Demokratisierung von oben schlug spätestens mit dem Generationenwechsel in den 60er Jahren in eine Demokratisierung von unten um. Immer größere Teile der Bevölkerung beteiligten sich in Form verschiedener „Bewegungen“ (Studentenbewegung, Frauenbewegung, Friedensbewegung, Ökologiebewegung, Bürgerrechtsbewegung usw.) aktiv an der Gestaltung des öffentlichen Geschehens.

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Diese Kurzfassung der jüngsten deutschen Geschichte durch einen Germanisten muß man nicht überzeugend finden. Sind zum Beispiel die genannten "Bewegungen" wirklich so bedeutsam gewesen, findet die eigentlich massenhafte demokratische Beteiligung nicht eher anderswo statt?

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Es bedarf keiner Erläuterung, dass vor allem durch die Inflektive, die sogar kombiniert oder in Verbindung mit anderen, auch komplexen Satzgliedern auftreten können - blödseiundgeradeaufgestandensei; aufschreidurchdiemengegehenhör, klappeaufreißundhandvorhalt, malsoebenmalindierundegähnentuumauchmalwaszusagen völlig neue morphologisch-syntaktische Möglichkeiten entstanden sind: Das Deutsche wird durch sie - sehr partiell freilich, da (zumindest vorerst) strikt textsortengebunden - zu einer polysynthetischen Sprache, in der das Verb einem vollständigen Satz entsprechen kann. Angesichts eines solchen Phänomens müssten sogar reine Systemlinguisten einräumen, dass sich die Gestalt der Sprache im Vergleich zum Neuhochdeutschen klassischer Provenienz gewandelt hat bzw. gerade dabei ist, sich zu wandeln. Man hätte hier ein handfestes 'innersprachliches' Kriterium im strukturalistischen Sinne, das für den Ansatz einer neuen sprachhistorischen Periode ins Feld geführt werden könnte. (ebd.)
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Nun, das wurde vor zehn Jahren geschrieben, aber schon damals hätte man sehen können, daß solche punktuellen Regelverstöße im Rahmen einer Juxkommunikation nicht ernsthaft als Keime eines typologischen Sprachwandels gelten können.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.06.2013 um 05.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1476#23312

Manchmal weht einen unvermittelt der sozialistische Jargon an, in dem immer alles durchschaut und eingeordnet war, und man wundert sich, daß es völlig unverändert wie in einem gläsernen Sarg erhalten geblieben ist. In einem Heft der Rosa-Luxemburg-Stiftung, das dem Zusammenhang zwischen Kapitalismus, Sexismus, Xenophobie usw. (allen Übeln eben) nachgeht, heißt es:

Zwar gab es Migration schon vor dem Kapitalismus und es gibt auch Migration und Flucht aus und in die noch bestehenden Enklaven (halbwegs) verwertungsfreier Gesellschaften (wie z.B. Kuba), doch produziert der Kapitalismus systemimmanent nationale und internationale Migration in vorher nicht gekanntem Ausmaß.

Ich mußte eine Weile in meinem Gedächtnis kramen, bevor ich (halbwegs) verstand, wieso Kuba verwertungsfrei ist ...
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.04.2012 um 09.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1476#20385

Zu den Duftmarken der DDR gehörte das Wort schöpferisch, den Grund kann man sich denken. Das Wort ist dadurch beinahe unbrauchbar geworden, ich kann mich nicht erinnern, es je verwendet zu haben. kreativ ist mir allerdings ebenso zuwider.
Nach dem Ende der DDR suchte man die Archive nach brauchbaren Patenten ab, von denen es natürlich auch in der DDR viele gab. Die Suche war aber nach einem Bericht der Wirtschaftswoche (30.10.2010) nicht sehr ergiebig. Das Nachfüllen von Kugelschreiberminen lohnt sich einfach nicht. Und was soll man mit einem Patent des Innenministeriums zur „Konservierung des menschlichen Geruchs“ (DD 302009) anfangen?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.08.2011 um 04.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1476#19126

Mit den DDR-Büchern zur Sprachwissenschaft ist es eine schwierige Sache. Es gab ideologiefreie (z. B. von Manfred Bierwisch), es gab solche, die es nach ein paar formelhaften Bekenntnissen zur Staatsideologie damit gut sein ließen, und es gab viel wertloses Zeug zur angeblichen Herausbildung einer sozialistischen deutschen Sprache usw., um so schlimmer, je näher an der Schule und an der Lehrerbildung. Ich habe mich damals viel damit beschäftigt, auch im Bereich Deutsch als Fremdsprache, und wir haben uns zu entsprechenden Tagungen getroffen, die Horst Dieter Schlosser, Manfred W. Hellmann und andere organisierten. In meinen Regalen stehen noch viele Bücher aus der DDR, gewissermaßen meine privaten Mauerreste, und ich gucke ab und zu hinein, um mich zu erinnern und mir keine Illusionen zu machen (wofür ich allerdings ohnehin nicht anfällig bin).

Aber es ist noch komplizierter: Zum Beispiel Wilhelm Schmidt hat viel ideologisches Zeug verzapft, zugleich aber gab es für seine Deutsche Sprachkunde nichts Vergleichbares im Westen, und auch seine Sprachgeschichte war in ihrer übersichtlichen Anlage sehr brauchbar, bis auf die heiklen Teile eben. Auch die "Kleine Enzyklopädie deutsche Sprache" hatte viele Vorzüge. In allen Fällen sind die Neubearbeitungen nach der Wiedervereinigung nicht durchweg zu rühmen. Wie schon gezeigt, können westdeutsche Autoren wie z. B. Peter von Polenz einfach nicht gut schreiben, man versinkt im Durcheinander und im terminologischen Wust.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 13.08.2011 um 21.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1476#19125

Immer wieder amüsant sind auch die Formulierungen der DDR-Bücher. In "Grammatik der deutschen Sprache" von W. Jung, bearbeitet von G. Starke, VEB Bibliographisches Institut Leipzig 1988, las ich gerade diesen Satz:

"Die Apposition ist ein Attribut in substantivischer Form, das die gleiche Erscheinung der objektiven Realität bezeichnet wie das Substantiv oder Pronomen, auf das sie sich bezieht; sie ist mit diesem referenzidentisch."

Alles, sogar Sprachliches, beruhte selbstverständlich auf den von Lenin, Marx und Engels beschriebenen Grundlagen.
 
 

Kommentar von Kurt Albert, verfaßt am 03.08.2011 um 19.17 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1476#19100

In der Tat ein amüsanter Fund – der auch über die Wirkung von Namen etwas aussagt, wobei übrigens "Thälmann" und "Telemann" anscheinend Varianten eines Familiennamens sind ("Thelemann/Thiedemann").
 
 

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